Ulrike Lehmann in: Kunstforum Bd. 158, 2002
Der erfundene Zwilling
UND DER ABSCHIED VOM INDIVIDUUM ALS SINGULÄREM SELBST TRANSGENE KUNST
1. Die Gentechnologie und das Klonen
Als der schottische Forscher Ian Wilmut 1997 das aus einer erwachsenen Körperzelle erzeugte Klon-Schaf Dolly präsentierte, war das für viele ein Schock und zugleich eine Überraschung. Schnell wurde die Frage gestellt: Kann man auch Menschen aus ausgereiften Körperzellen genetisch identisch vermehren? Der Chicagoer Reproduktionsexperte Richard G. Seed will jedenfalls bald erstmals Menschen klonen – und in die Geschichte eingehen. Als erstes Land der Welt hat nun Großbritannien für diesen wissenschaftlichen Schritt bereits grünes Licht gegeben und das Klonen menschlicher Embryos für medizinische und therapeutische Zwecke zugelassen.
Klonen bedeutet, einen Menschen zu reproduzieren und damit einen künstlichen Zwilling oder gar mehrere Doubles zu erzeugen. Die Einmaligkeit einer Person, das Individuum und die Vorstellung der Einzigartigkeit eines Menschen wird durch die Verdoppelung oder Vervielfachung obsolet. Vor allem an diesem Punkt wird das Klonen auf kritische Weise moralisch, ethisch, theologisch und psychologisch hinterfragt. Und es mehren sich die ernsthaften Befürchtungen, dass ein Mensch nicht nur gedoppelt werden, sondern auch nach spezifischen Vorstellungen und Wünschen geschaffen werden kann. In Bezug auf die Bibel sagte Richard G. Seed in einem Interview: „Gott hat den Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen. Gott hat beabsichtigt, dass die Menschen eins werden mit Gott. Klonen und die Neuprogrammierung der Erbsub stanz sind der erste ernsthafte Schritt, mit Gott eins zu werden. Menschen sind immer mehr dabei, Leben zu kontrollieren. Das ganze Leben. Jeden Aspekt des Lebens. Wenn es nützlich sein sollte, am Ende meines Fingers ein Auge zu haben, damit ich besser unter den Stuhl schauen kann, soll es möglich sein. In 300 Jahren. Und wenn ich dafür nicht meine Hand verschwenden möchte, habe ich vielleicht so etwas wie einen Affenschwanz, damit kann ich überall hinschauen, wo ich will. Der Markt wird das entscheiden. In 500 Jahren können Menschen auch entscheiden, anders auszusehen als heute. Wenn wir über Klonen reden, ist das nicht das Ende, es ist erst der Anfang. Wer weiß, wo es enden wird?“1
Eine Vorahnung zum Prozedere der Verwirklichung idealer Menschenbilder kann man auf der Internetseite http://www.d-b.net/dti/ erhalten. Berühmte Persönlichkeiten wie Schauspieler, Musiker und Politiker werden hier von der Vermittlungsfirma „Dreamtechnology“ als genetische Ware angeboten und auf verschiedenen Seiten feilgeboten. In einem Fragebogen kann man sich seinen Wunschmenschen nach eigenen Vorstellungen mixen, doubeln lassen und bestellen. Auch die Kosten für dieses Verfahren werden selbstverständlich angegeben. Was hier jedoch mit ernsthafter Mine präsentiert wird, ist in Wirklichkeit ein „fake“, die mimetische Vortäuschung einer nur scheinbaren Realität – zum Glück, kann man da nur sagen. Diese Seiten wurden als Anti-Kloning-Kampagne geschaffen, um den Nutzern zu zeigen, wie es sein würde und sie so gleich in die Aufklärungsfalle zu locken.
2. Die digitale Bildmanipulation
Doch die Frage, wie ein geklonter Mensch in Zukunft aussehen könnte, ob als Double, als erfundenes Mehrlingswesen oder als Frankenstein-Monster, haben bereits einige Künstler in ihren Fotografien und Videos prognostiziert und visualisiert mit den Mitteln der digitalen Bildmanipulation.
Erstaunlich ist, dass – parallel zur gentechnologischen Entwicklung – neu entwickelte Softwareprogramme zur digitalen Bildmanipulation auf den Markt kamen, die nicht nur von Werbedesignern, Filmemachern und Fernsehstudios, sondern auch von Künstlern sofort aufgegriffen und für ihre Zwecke eingesetzt wurden.
„Vier lieben dich“ (Originaltitel „Multiplicity“) ist eine amerikanische Vervielfältigungskomödie von Harold Ramis („Und täglich grüßt das Murmeltier“), die am 31.10.96, also etwa ein halbes Jahr vor Dollys Geburt, in die deutschen Kinos kam: Baufirma, Familie, Golf was zu viel ist, ist zu viel! Der überlastete Familienvater Doug (Michael Keaton) willigt in ein Gen-Experiment ein, um endlich alle Aufgaben zu meistern. Und sofort gibt es zwei Dougs! Sein Klon bewährt sich als perfektes Arbeitstier, nun fehlt noch jemand für die Hausarbeit. So wird kurzerhand Doug drei geschaffen. Bald darauf folgt Nummer vier – aber der misslingt. Und langsam schöpfen Ehefrau Laura (Andie MacDowell) und die Kinder Verdacht…
Dieser Film sollte nicht der einzige bleiben, der das immer beliebter werdende Thema „Vervielfältigung von Menschen durch Klonen“ transportiert. Der 1999 in den USA produzierte Film „Being John Malkovich“ (Regie: Spike Jonze), der am 4.5.2000 seinen deutschen Kinostart hatte und auf dem Filmplakat bereits mit den hundertfachen Klones eines Menschen geworben wurde, zeigt die Faszination und scheinbare Möglichkeit, sich als Doppelgänger einer anderen Person durchs Leben zu lavieren. Dank seiner ausgeprägten Fähigkeit, Marionetten zu führen, gelingt es dem Marionettenspieler Craig Schwarz, sich in den Kopf von John Malkovich dauerhaft einzunisten und dessen körperliche Ausstrahlung als auch seinen Bekanntheitsgrad den eigenen Zwecken dienlich zu machen. Für kurze Zeit John Malkovich sein, die Welt mit den Augen eines anderen sehen, anders riechen, fühlen, schmecken, sich sozusagen einen Totalausstieg vom Ich zu gönnen, die totale Vernetzung aller Sinne mit denen eines anderen und das ohne Nebenwirkung, wurde für Craig Schwarz ein erfüllter Wunschtraum – zumindest in diesem Film.
Angesichts dieser seit etwa Mitte der 90er Jahre entstandenen Bilder, in denen Menschen, Tiere und andere natürliche Lebewesen, aber auch Landschaften, Architektur und Alltagsgegenstände künstlich erzeugt oder digital verändert wurden, stellt sich die Frage nach der Rolle des Künstlers neu. Wurde der Künstler bisher, vor allem im 19. Jahrhundert, als Schöpfer und Kreator einer anderen visuellen, nämlich der Bilderwelt gesehen, übernimmt der Künstler, der mit digitalen Medien arbeitet, heute die Rolle des Schöpfers einer zweiten Natur.2
Dass der Film, die Fotografie und Videokunst keine authentische Wiedergaben der Wirklichkeit mehr sind, wie viele heute noch zu glauben vermögen, ist eine Tatsache, die bereits vor Jahrzehnten immer wieder belegt und diskutiert wurde. Wie Hubertus von Amelunxen in seinem Text über die Fotografie nach der Fotografie konstatierte, ist die Geschichte der Fotografie eine Geschichte gefälschter Zeugnisse: „Durch Fotografie entstehen neue Bilder – nicht nach der Natur, nicht nach der Malerei, nicht nach der Fotografie, sondern nach den technischen und prozessualen Möglichkeiten“.
Heute wird vor allem der Computer eingesetzt, um Fiktionen zu erzeugen. Völlig neue Welten können hierin entstehen oder durch Überblendungen verschiedene filmische oder fotografierte Szenen mühelos ineinander kopiert werden, die augenscheinlich nichts miteinander zu tun haben. Durch Simulation, Virtual Reality und Cyberspace entstehen heute neue Wirklichkeiten, die man hyperreal nennt. Mit diesen Mitteln verführt die Werbung seit längerem, und auch das Fernsehen und das Kino spielen mit Fiktionen.
Wir sehen uns heute mit Bildern konfrontiert, deren Wahrheitsgehalt stets aufs Neue überprüft werden muss, um nicht in die Bilderfallen zu fallen. Gerade weil wir in Bildern denken und Informationen über Bilder vermittelt bekommen, sind wir bestrebt, uns von der Welt ein ordnendes Bild zu machen, das wir für wahr halten. Doch die Lügen der modernen Bilder, die uns durch gezielte Manipulationen heute ein X für ein U vormachen wollen, zwingt uns zu verschärfter Wahrnehmungsgabe.
Gerade weil wir durch die Wahrnehmung von manipulierten Bildern auf eben jene Manipulationen geeicht sind, fällt es uns zunächst schwer zu glauben, dass die Schwarzweiß-Fotos von eineiigen Zwillingen der Amerikanerin Lynn Davis (geb. 1944) oder die Farbfotos ebensolcher Zwillinge von Albrecht Tübke (der sie 2001 auf der art cologne in der Förderkoje der Dogenhaus Galerie ausstellte), tatsächlich reale Abbilder und nicht aus dem Computer entsprungen sind. Tübke interessiert sich bei dieser Serie, die bis Ende 2002 wirkliche Zwillinge fertigstellen will, für die scheinbar gleiche Identität von zwei Menschen und ihr Verhältnis untereinander, das hier unzertrennlich ist und dort in Feindschaft ausartet. Die Nuancen der Unterschiedlichkeit werden jedoch durch Tübkes wie auch Davis Fotografie sichtbar.
Mehr und mehr regen die Möglichkeiten und Auswirkungen der heutigen Gentechnologie die Künstler dazu an, selbst mit Hilfe des Computers die Natur und den Menschen zu mutieren, zu verändern und zu verfremden oder per digital-fotografischem und videotechnischem Verfahren völlig neue Kreaturen zu erzeugen, um damit diesen umstrittenen wissenschaftlichen Fortschritt kritisch zu beleuchten. Das Thema Zwilling, Doppelgänger, geklonter Mensch, hat heute, gespeist durch die aktuellen Debatten um den wissenschaftlichen Fortschritt im Bereich Gentechnologie, Hochkonjunktur.
3. Der erfundene Zwilling
Was bedeutet das Klonen eines Menschen im Bereich der bildenden Kunst nun im Einzelfall? Welches Konzept verfolgen die Künstler damit? Im folgenden möchte ich nun einige Bildbeispiele anführen, um das Phänomen des erfundenen Zwillings als Thema in der Kunst zu beleuchten, Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszustellen.
Lange vor der Entwicklung der Gentechnologie sind in der Kunstgeschichte bereits zahlreiche Doppelporträts entstanden, von denen vor allem Frida Kahlos gemaltes Bild „Die zwei Fridas“ aus dem Jahr 1939 berühmt wurde.
Die zwei Fridas mit verschiedener Kleidung sitzen auf je einem Stuhl und geben sich die Hand. Das Gemälde entstand kurz nach der Scheidung im gleichen Jahr. Auf ihren Kleidern sitzt ein offenes Herz. Die Herzen (Symbol ihres Liebeskummers) sind mit einer Ader hinter ihrem Rücken verbunden. Die verstoßene und ungeliebte Frida im weißen Hochzeitskleid und mit zerrissenem Herzen schneidet mit einer Schere auf dem Schoß die Verlängerung der Ader ab. Blut tropft auf ihr Kleid. Die geliebte Frida mit dem gesunden Herzen hält ein kleines Bild von Diego, dargestellt als kleiner Junge, in der Hand. Nach der Trennung von Diego erscheint sie auf dem Gemälde als ihre eigene Gefährtin. Zwar zeugen auch andere Selbstporträts von ihrer inneren Zerrissenheit, von einer gespaltenen Identität, doch tritt Kahlos psychologische Problematik im Bild „Die zwei Fridas“ besonders deutlich hervor. Rivera betonte einmal: „Ihre Bilder stellen immer ihr Leben dar: die beiden Fridas, gleichzeitig dieselbe Person und zwei verschiedene Menschen.“3 Das Malen von Selbstporträts war für Frida Kahlo, wie sie selbst einmal sagte, eine Art Therapie zur Selbsterhaltung und Selbstbestätigung aufgrund ihres körperlichen Schicksals und Handicaps.
Andy Warhol multiplizierte mehrere bekannte Personen wie Marylin Monroe, Elvis Presley oder er selbst. In seinen Fotoarbeiten und Siebdrucken reihte er ein und dasselbe Konterfei mehrfach an- und untereinander und thematisierte mit der rhythmisch-seriellen Wiederholung die Wirklichkeit der Fotografie in den Medien, den multiplen Gebrauch eines Fotos in verschiedenen Presseorganen, die häufige Wiederkehr ein und desselben Porträts einer Person, die damit zur Ikone wird. Ein Beispiel dafür ist das Bild „Zwanzig Marylins“ von 1962. Er verdeutlicht die Alltäglichkeit des Stars und sein Fotoporträt als Massenware. Durch die Repetition entweiht er die Einmaligkeit des Dargestellten und behandelt das multiplizierte Konterfei wie seine Bilder über die serielle Produktion von Suppendosen. Warhols Mehrlinge entstanden nicht vor dem Hintergrund der modernen Wissenschaft und des Klonens, sondern im affirmativen Bezug zur industriellen Warenproduktion und Konsumwelt. Zugleich ist es eine Antwort auf Walter Benjamins Aufsatz „Die Kunst im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“, der die Vervielfältigung der Bilder durch Fotografie thematisiert.
Warhols multiple Marylins scheinen vorwegzunehmen, was bald Wirklichkeit werden kann. Heute sind wir in einem Zeitalter angelangt, indem man zum einen mit wissenschaftlichen Methoden einen Menschen vervielfachen und zum anderen mit digitalen Mitteln Zwillinge erzeugen und auf ein Bild bannen kann.
Doch noch vor den Möglichkeiten der digitalen Fotografie erstellte Jeff Wall 1979 ein Doppel-Selbstporträt. In einem nüchternen Raum steht er einmal links und einmal rechts im Bild und schaut den Betrachter mit ernster Mine an. Die beiden Männer sind verschieden gekleidet und haben eine unterschiedliche Körperhaltung, wodurch sie wie zwei Individuen erscheinen. Der rechte Jeff stützt sich mit seiner Hand auf einen kreisrunden Sessel, der in der vorderen Bildmitte steht und hier zum Symbol der Einheit einer Person wird. Das lineare Geflecht des Stuhls wiederholt sich in der gestreiften Tapete und verbindet formal beide dargestellten Männer zu einer Person. Die eher steife Körperhaltung der beiden führt zum Ausdruck kritischer Distanz und Kälte, Besinnlichkeit und Nachdenklichkeit.
1992 entstand die Serie „Fictitious Portraits“ von Keith Cottingham (geb. 1965), die in digitaler Farbfotografie zwei bzw. drei Jünglinge mit nacktem Oberkörper vor schwarzem Grund posieren. Ihre Leiber sind vom unteren Bildrand angeschnitten. Die Nacktheit der fiktiven Zwillinge und Drillinge macht sie noch gleicher als gleich. Cottingham verfolgt mit diesen Bildern, von denen eins als Cover für den Katalog „Fotografie nach der Fotografie“ verwendet wurde, einen medien- und zugleich subjektkritischen Ansatz. Er will „zwei der grundlegenden Mythen in Frage [stellen]: den Glauben an die wissenschaftliche Objektivität von Repräsentation einerseits und den Glauben an die schöpferische Authentizität des Subjekts andererseits.“4 Die Porträtierten sind keine realen Personen, sondern Kreaturen aus modellierten Tonköpfen und Zeichnungen, die im Computer bearbeitet werden. So entsteht das Foto einer multiplen, scheinbar existenten Persönlichkeit, die jedoch fiktiv ist. Zu seinem Bildern sagt Cottingham: „Dadurch, dass ich ein Porträt als multiple Persönlichkeit konzipiere, wird das ‚Selbst‘ nicht als ein Wesen präsentiert, das ein für alle Mal fest steht, sondern als Ausdruck der ständig im Fluss befindlichen Wechselbeziehung zwischen Gesellschaftlichkeit und eigenem Inneren. Jeder Ausdruck ist gleichzeitig eine Sicht von sich und auf sich selbst.“5 Somit werden seine Porträts zu Bildern des Menschen an sich. Der Zwilling ist hier nicht ein zweites Individuum, sondern verweist auf das generelle Menschenbild.
Ein jüngst entstandenes Digitalfoto des in New York lebenden Künstlers Anthony Goicolea (geb. 1971), der sich mit Mythen und Geschichten der Kindheit sowie mit der nicht immer angenehmen „Reise“ zum Erwachsenwerden befasst, zeigt ihn nackt in unterschiedlichen Steh- und Liegeposen, in unterschiedlichen Charakteren, verführerisch und zugleich unbeholfen in einem unbestimmten Raum. Goicoleas Arbeit ist bewusst auch eine Auseinandersetzung mit dem Kloning. Er sagt in einem bislang unveröffentlichten Statement: „Through digital manipulation, I am able to clone myself and create scenarios in which I act out childhood incidents … These works are simultaneously rooted in nostalgia and science fiction. While hinting at the past and early Freudian developmental stages of youth, they also refer to new medical and technological break throughs in fertility drugs and gene cloning with biting cynism and humour. Taking narcissistic fantasies one step further into the realm of the impossible and the absurd, the characters actually interact with their mirror images.“
Kirsten Geisler (geb. 1949) hat bereits 1996 einen virtuellen Menschen nach dem Ebenbild einer realen Person erschaffen. Die zweiteilige Video/Computeranimation „Who are you“ zeigt links ein reales Frauenporträt per Video und rechts die virtuelle Version. Beide schauen den Betrachter an. Dann drehen sie ihre Köpfe einander zu, und die eine fragt die andere: „Who are you?“ Daraufhin wenden sie sich wieder dem Betrachter zu und beziehen ihn somit in die Fragestellung mit ein. Die virtuelle Person scheint plötzlich real zu werden. Beide hinterfragen ihre jeweilige Existenz des Realen und Virtuellen und thematisieren damit die unterschiedlichen und hier fast nicht unterscheidbaren Wirklichkeiten von Abbild, Vorbild und Ur-Bild.
In der Arbeit „Beauty“ geht Geisler noch einen Schritt weiter. Sie präsentiert das große Bild einer virtuellen Frau als Konglomerat von Schönheitsideal und (technischer) Perfektion, mit der der Betrachter per Mikrophon Kontakt aufnehmen kann. Die Virtuelle antwortet ihm auf einfache Fragen, sie zeigt emotionale Regungen, kann küssen und lachen. Durch die Perfektion des Klons wirft das virtuelle Bild uns auf unsere Menschlichkeit zurück und weckt Fragen über unsere eigene Identität. Kirsten Geisler thematisiert mit ihrer Arbeit die Schnittstelle zwischen Biotechnologie und Informationstechnologie. Sie sagt: „Biotechnology gives us the perfect species and its clones. Computer science and information technology help (wo)men to create a new world.“6
Als Erschafferin von neuen Menschengestalten schlüpft sie als Künstlerin in die Rolle von Gott als Schöpfer. So erhält der Begriff des Künstlers als Schöpfer und Kreator einer zweiten Natur vor dem Hintergrund der Gentechnologie eine neue, brisante Dimension. Die Grenze zwischen Kunst und Wissenschaft, Science und Science Fiction wird hier fließend.
Auf eine direkt anschauliche Weise wird dies deutlich bei Mariko Mori. Sie stellt sich in ihren großformatigen und aufwendig inszenierten Fotografien immer wieder selbst dar, zumeist in futuristischen Kostümen. Ihre erfundenen Konterfeis multipliziert sie, um verschiedene Bewusstseinszustände, Gesten und Haltungen simultan darzustellen, aber auch, um den Betrachter zu irritieren. Sie thematisiert verschiedene Aspekte ihrer Person in einem bestimmten Moment. Es geht in ihren Bildern um das Nirwana. Sie stellt zudem eine Verbindung von westlicher und östlicher Identitäten her, sie vereint Comic und Science Fiction, Religion, Pop und technoide Zukunftsvisionen. Mori sucht mit ihren Bildern nach neuen Visionen, neuen Menschenbildern und nicht zuletzt thematisiert sie ihre eigene Doppelidentität als Japanerin, die in New York lebt.
Bjørn Melhus (geb. 1966), der mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet wurde, arbeitet bereits seit Beginn der 90er Jahre mit Videofilmen an der Verdoppelung seines Selbst und bezieht dabei ebenso die Pop-Kultur ein. Es geht ihm dabei jedoch nicht allein um die Erfindung eines Zwillings, sondern auch um den Verlust von Subjektivität durch die neuen Technologien und die Massenmedien. In „Das Zauberglas“ (1991) spricht er vor dem Fernseher mit seinem medialen, weiblichen alter ego und verliebt sich in sie. Die Liebe bleibt natürlich unerfüllt: sie verschwindet am Ende im Bilderschnee. In „No Sunshine“ (1997) verdoppelt er sich gleich als geschlechtsloses Zwillingspaar, das an Playmobil-Figuren erinnert, zu einem nackten Zwil lingspaar im Hintergrund. Die Szenen mit den vier geklonten Kreaturen spielen in einem uterusförmigen Weltraum, in dem auch stachelige, rote Objekte kreisen. Mit kindlichem Gesang begleitet wird der Versuch unternommen, beide Paare zu einer Person zu vereinigen. Doch eine erhält plötzlich ihre Sexualität, sie verliebt sich in sich selbst und wird zur „realen“ Person. Die Videoinstallation „Again & Again“ (1998) deutet schon im Titel auf die stete Repetition seines Selbst hin. Melhus vielfache Ich-Konstruktionen entstehen wie am Fließband, eingebettet in grüne Blätter der virtuellen Natur und bekleidet mit der Unterwäsche wie Adam nach seinem Apfelbiss. Seine fiktiven Multiples stehen hier wie auch in den anderen Filmen im Dialog zueinander und können sich doch nie erreichen.
Auch Martin Liebscher (geb. 1964) und Loretta Lux (geb. 1969) visualisieren ihre eigene Person als multiplizierte Selbstdarstellungen, Mehrlinge, die mittels digitaler Bildtechnik erzeugt wurden. Ihre künstlerische Handlung erscheint wie ein Narzissmus, der alptraumhafte Züge annimmt und zu heiteren bis erschreckenden Visionen vom Kloning führt.
Im Gegensatz zu Wall und den Arbeiten von Vibeke Tandberg (s.u.) tragen die immergleichen Personen bei Liebscher und Lux im jeweiligen Bild die gleiche Kleidung, so, wie man es von Zwillingspaaren aus der Wirklichkeit kennt.
Martin Liebscher tummelt sich innerhalb eines Raumes im Dutzend auf seinen Panoramafotos, nimmt dabei aber unterschiedliche Haltungen ein. Seit 1993 produziert er diese Fotos als Serie mit dem Titel „Familienbilder“. Der Single gesellt sich selbst hinzu und ist so, im Verbund der Familie – in der alle Mitglieder nicht nur ähnlich, sondern identisch aussehen – nicht mehr allein. Die Multiplizierung des Selbst ist nicht nur eine Aussage im Hinblick auf den Egozentrismus und die Selbstironie, sondern auch eine Frage nach der eigenen Identität. Die Verschiedenheit der Gesten und Haltungen geben dem Bild den dynamischen Bildaufbau und narrativen Inhalt. Für sein „längstes Gruppenfoto der Welt“, auf dem er sich in 37 Meter Länge 205 Mal eingescannt hat, erhielt er den Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde. Bei näherer Betrachtung der Bilder fällt auf, dass Liebscher von allen Seiten und in verschiedenen Posen dargestellt ist, doch nur selten haben seine geklonten Konterfeis einen direkten Bezug zueinander. Es scheint, als würden sie nicht miteinander kommunizieren. So ist das Ich doch ein Anderer, vielleicht sogar ein Fremder? „An die Stelle des aufklärerischen Fichtschen ‚Ich ungleich Nicht-Ich‘ setzt der Künstler in seiner genüßlichen Identitätssuche ein redundantes ‚Ich gleich Ich und doch nicht gleich Ich'“, resümiert Raimar Stange.7
Die Ungleichheit und Nicht-Identität des Selbst thematisiert ebenfalls Vibeke Tandberg (geb. 1967) in ihrer Fotoserie „Living Together“ (1996), wenn auch auf ganz andere Weise. Tandberg multipliziert sich nicht mehrfach, sondern stets als fiktiver Zwilling. Ihre Fotos erscheinen wie Erinnerungsfotos und Schnappschüsse, die Bilder aus dem Leben greifen. Und doch sind es inszenierte Bilder eines harmonischen Miteinanders von zwei Schwestern. Im Gegensatz zu Liebscher und seinem weiblichen Pendant, Loretta Lux, macht das erfundene Zwillings paar von Tandberg, das an Erich Kästners Buch „Das doppelte Lottchen“ erinnert, alles gemeinsam. Der Alltag wird miteinander geteilt, und alltägliche Verrichtungen – wie Essen, Schlafen, Urlaub machen, Spazieren gehen und für ein Familienfoto als Gruppe (mit einer anderen Person) posieren – werden gemeinsam vollzogen.
Die Leichtigkeit, die den Umgang der beiden Frauen kennzeichnet, drückt zugleich eine Selbstverständlichkeit aus, die über die fotografische Inszenierung und das geklonte Ich hinwegtäuschen. Tandbergs Fotos wirken täuschend echt und sind doch Simulation. Als Ausgangspunkt für Tandbergs Serie nennt der Autor Einar J. Børresen die Fotoserie von Diane Arbus „Identical Twins, Roselle, N.J.“ von 1967.8 In ihrem fiktiven Zwillingspaar, das sie auch in ihrem Film „Boxing“ von 1998 darstellt, schafft Tandberg sich ein alter ego, um sich mit sich selbst auseinander zu setzen.
1996 begann Christine Sommerfeldt eine Serie mit dem Titel „En Face“. In jedem dieser Bilder inszeniert sie die Begegnung zwischen einer Person und ihrem Doppelgänger. Dabei wurde die Verdoppelung der Figuren im Bild nicht digital, sondern mit dem klassischen Prinzip der Doppelbelichtung in der Kamera erreicht. Mit einigen Motiven geht sie literarischen Vorlagen nach, in denen der Doppelgänger thematisiert wird, insbesondere in der Literatur der Romantik (so von E.T.A. Hoffmann oder Dostojewski), die durch das Motiv des Doppelgängers innere Bewusstseinskonflikte und individuelle Identitätssuche thematisiert. Entsprechend zum literarischen Vorbild herrscht in allen Bildern der Serie „En Face“ eine dunkle, zwielichtige Atmosphäre und eine merkwürdige Spannung, die von den dargestellten Personen ausgeht. Die Doppelgänger stehen sich nicht locker im Alltag gegenüber – wie bei Vibeke Tandberg zum Beispiel. Denn im Augenblick der Begegnung mit ihrer geisterhaften Doppelerscheinung, wenn sie vor lauter Entsetzen, Misstrauen oder Schrecken mitten in ihrer Handlung stehen bleiben, erhalten die Figuren eine noch höhere psychologische Dichte. Die Twins scheinen sich nicht sehr nahe zu sein, obwohl sie sich im gleichen Raum befinden. Daran ändert merkwürdigerweise auch die narrative Klammer nichts, die die Inszenierung vorgibt. Sommerfeldts Zwillinge wollen nicht gemeinsam erzählen oder eine gemeinsame Geschichte erleben, sondern ihren inneren Zustand darstellen in der Begegnung mit ihrem zweiten Ich.
Oliver Husains (geb. 1969) episodenhaften Musical-Melodram „Ron und Leo“, 1999, handelt vom gleichnamigen Liebes- und Zwillingsbruderpaar Ron und Leo und den verschiedenen Stationen ihrer Popkarriere-Krise, vom Erfolgseinbruch, einer Sinnkrise und von den Versuchen einer künstlerischen Solokarriere. Die rosafarbenen Plüschhasen, die an die heutige Plüschwelt und Cartoonwelt erinnert, bewegen sich abwechselnd in realen und virtuellen, durch den Computer erzeugten Räumen. Die Räume widersprechen der Erzählung: Die „Popstars“ bewegen sich nicht in einer Glamourwelt, sondern in einem funktionalen, öffentlichen, alltäglichen Raum und einem künstlich erzeugten Raum. Virtualität und Alltag vermischen sich auf seltsam skurrile Weise. Wie im echten Leben ist das Popstar-Sein mehr eine Hilfe zur Identitätskonstruktion.
In Stefan Hoderleins Video „Multiple Jack“ von 1995/98 tanzt eine Gruppe von fünf bis sieben Menschen zur Psychodelic Trance-Musik im schwarzen, undefinierten Raum neben- mit- und voreinander. Jede Person trägt eine andere Kleidung, und doch ist es die gleiche Person. Wie der Titel bereits andeutet, handelt es sich um einen vielfach multiplizierten Mann namens Jack. Jack, das ist in dem Fall der Künstler selbst, der sich geklont hat. Er ist allein und tanzt doch mit seinem Selbst in einer Gruppe. Ist es die Sehnsucht nach Gesellschaft in der anonymisierten Lebenswelt oder ist es die Genügsamkeit, mit sich selbst (und seinem multiplizierten Ich) Spaß zu haben? Beide Möglichkeiten sind Ausdruck unserer heutigen Lebenssituation.
Die in Los Angeles lebende Künstlerin Lisa Tan entwickelt nach ihren Performances Fotos, in denen sie ihre Person spiegelt. Die zwei Lisas, so sagt sie, seien eine Art Verhör, um den Narzissmus und die eigene Identität zu befragen, aber auch, in Verbindung mit dem Spiegel, um eine positive Zukunftsdeutung und eine heterogene, unbestimmte Zukunft.
Diese Beispiele, die zumeist aus der digitalisierten Foto- und Videokunst stammen, können unendlich fortgeführt werden. Die Zwillings-Thematik, die von einigen Künstlern aufgegriffen, aber nicht immer unmittelbar mit dem Klonen in Verbindung gebracht wurde, lässt sich zum Beispiel bei Anna Gaskells Fotoserie „Alice im Wunderland“, bei Vanessa Beecroft oder Wendy McMurdo (siehe hierzu den Katalog der Ausstellung „unheimlich“ vom Fotomuseum Winterthur 1999) finden, aber auch im skulpturalen Bereich wie bei Pia Stadtbäumer, bei Charles Rays „Oh! Charley, Charley, Charley…“ von 1992 oder auch bei Stefan Hablützels nahezu menschengroßer zweiteiliger Wandskulptur „1962-1929“ von 1995/96, die zwei verschieden gekleidete Männer realistisch darstellt. Die gleichaltrigen und gleichförmigen Gesichter, nicht zuletzt auch die ähnlich starre Haltung geben Aufschluss darüber, dass es sich um Zwillinge handeln muss. Doch die unterschiedliche Handhaltung, die andere Frisur und die verschiedenartige Kleidung – die beim rechten Mann stammt vermutlich aus der Mode um 1929 – macht aus ihnen zwei unterschiedliche Typen. Gleich und doch nicht gleich? Hier wird die Individualität der Zwillinge besonders betont.
Auch in der Literatur, im Theater und wiederum in der Werbung findet dieses Thema Einlass. Mit dem Deutschen Jugendbuch 2000 ausgezeichnet ist der aktuelle und beklemmende Roman „Blue Print“ von Charlotte Kerner, dessen zentrales Thema das Klonen und das Zwillingspaar Iris und Siri Sellin sind.
Im April 2001 lief im Braunschweiger LOT-Theater die Performance „Dolly im Wunderland“. Die Performance ist eine Koproduktion mit dem Wiener Ensemble „toxic dreams“, dessen Mitbegründer und Leiter Yosi Wanunu ist. Dolly im Wonderland soll der Einzug der Performance in die wunderbare Welt der Naturwissenschaft sein. Die totale Manipulation des (weiblichen) Körpers, die medizinische Kampfmaschine gegen dessen Verfall, Fitness- und Schönheitsprogramme lassen den Körper noch da sein. Methoden der Biotechnologie lassen ihn ganz verschwinden – als Hülle des genetischen Informationspools, reproduktionstechnischer Brutkasten für die perfekte genetische Konstruktion: der ideale Mensch zeigt sich in zusammengesetzten Inforessourcen.
Ebenfalls im April 2001 (und in weiteren Monaten) stellte Angie Hiesl ihr neues Projekt „Wie weiß ich, dass ich ich bin“ im Kölner Brückenkopf der Deutzer Brücke vor (s. auch KUNSTFORUM Bd. 157, S. 480). Hiesl hat diese einfühlsame Performance mit sechs eineiigen Zwillingen durchgeführt, wobei sie die Regie geführt hat. Ihr ging es hierbei um die Frage nach Spiegelbildlichkeit und Täuschungen, um die ganz eigene Zwillings-Erfahrung des Doppelten. Gibt es überhaupt Abgrenzungen, und wie kann diese Abgrenzung überhaupt gelingen angesichts eines Menschen, der genau gleich aussieht und vielleicht sogar gleiche Neigungen und Interessen hat? Was ist Individualität, und wer ist überhaupt wer? In der Performance wurde dies unter anderem durch synchrones und asynchrones Verhalten geäußert. Hiesl, die selbst eines von Drillingen ist, hat mit ihrem Stück verschiedene Verhaltensweisen aus dem Leben von und mit Zwillingen gezeigt. Sie hat damit gerade in dieser Zeit auch dem Publikum vermittelt, wie es sein könnte, einem geklonten Konterfei bzw. diesem gar als Zwillings paar zu begegnen.
Der Herrenmodeausstatter Anson’s hat im vergangenen Jahr – ungefähr zeitgleich zur Debatte um das Klonen im Frühjahr 2001 – eine erfolgreiche Werbekampagne gestartet mit einem Plakat und einer Postkarte. Beide zeigen die Verdoppelung des Schlagersängers Heino. Der linke Heino ist so dargestellt, wie man ihn kennt: mit Rolli, roter Jacke, singend und die Hände offen zum Publikum haltend. Der rechte Heino erscheint mit seriösem Gesicht, im Anzug und mit Krawatte. Er ist von Anson’s eingekleidet worden. Oder vielleicht auch der linke? Wir alle wissen, wie Heino aussieht, welches Markenzeichen er hat und dass er einzigartig ist. Nun wissen wir auch, wie er aussehen könnte, welch andere Individualität er einnehmen könnte, wenn er zu Anson’s ginge. Zwei Heinos gleichzeitig in einer Darstellung veranschaulichen die multiple und wandelbare Persönlichkeit als Zwillingspaar. Zwischen jener Einheit und Vielheit und vor dem Hintergrund der neuen Klongesellschaft müssen wir uns wohl von der Vorstellung eines singulärem Selbst verabschieden – müssen wir das wirklich?
Alle diese Beispiele zeigen nicht nur die Beliebtheit dieses Themas in der zeitgenössischen Kunst, sondern auch, dass die Gentechnologie und damit die Frage nach der Identität auf vielfältige Weise auch in anderen Sparten der Kultur und in der Werbung thematisiert wird. Gemeinsam ist den meisten Arbeiten, dass die Künstler sich selbst in ihren bildnerischen Werken reproduzieren und weniger andere Personen. Die Schnittstelle zwischen Informations- und Biotechnologie wird virulent in der digitalen Bildmanipulation. Doch bereits vor der Geburt Dollys und vor der Entwicklung bzw. künstlerischen Nutzung von Softwareprogrammen haben Künstler die Visionen vom geklonten Menschen entwickelt. Zum Glück können ihre Vorstellungen jedoch nicht Wirklichkeit werden. Ein Klon zu sein heißt nur, dass das Erbgut, der sogenannte Genotyp der Individuen, identisch ist.
Doch noch nie hat es eine Fortpflanzung gegeben, ohne dass das Erbgut zweier geschlechtsverschiedener Menschen zusammenkommen musste; noch nie gab es außer gleichzeitig gezeugten und geborenen Mehrlingen einen Menschen, der das gleiche Erbgut besitzt wie ein anderer Mensch. Denn ein Mensch, der als Urbild für einen Klon steht, hat bei der Geburt des Klons bereits einen gehörigen Altersvorsprung: Wenn ein Klon geboren wird, wenn der Vater 40 ist, ist er 40, wenn der Vater schon 80 ist. Dadurch sehen beide Menschen sehr unterschiedlich aus und nicht wie zwei gleichaltrige Zwillinge (wie das aussehen könnte, zeigt eine aktuelle Werbung der Kreissparkasse Köln zur Rentenreform). Das Klonen von Menschen ist zudem eine seltsame Form der Unsterblichkeit, es ist keine wirkliche, sondern nur eine künstliche Unsterblichkeit, denn der Klon wäre nur eine Kopie von einem selbst.
Genetisch identische Individuen (= Klone) können also nie zeitgleich leben. Diese „beruhigende“ Tatsache wird zu beunruhigenden Bildvisionen von Künstlern, die damit der heutigen Problematik der Identität nachgehen und zugleich die Gestaltung des Menschen, die (De-)komposition seines Körpers thematisieren. Denn Identität ist nicht nur aufgrund von Pixeln in der Auflösung begriffen. Unsere moralische und ethische Vorstellung von Identität hat sich im digitalen Zeitalter sehr gewandelt. Davon handeln diese Bilder.
Anmerkungen
1.) Richard G. Seed in einem Interview in der Frankfurter Rundschau, 13.07.1998 (Nr. 159).
2.) Interessant in diesem Zusammenhang ist auch die Tatsache, dass sogar das Wort „Klonen“ in Bedienungsanleitungen von Softwareprogrammen vorkommt, so z.B. bei Corel Draw. Durch die Benutzung des Programms kann man gezeichnete Linien, sogenannte Parallelen konstruieren durch Klonen. Dazu heißt es: „Das ist eigentlich nichts Neues und war mit Duplizieren schon zu erreichen. Einen Unterschied werden Sie feststellen, sobald Sie das Original durch Strecken, Stauchen, Drehen oder Schrägen verändern. Im Gegensatz zu den duplizierten Objekten überträgt sich die Veränderung wie von Geisterhand auf alle Klone. Hinweis: Von einem Klone können Sie keine weiteren Klone erzeugen. Sie können wohl Klone duplizieren. Alle Duplikate erhalten die Eigenschaft des Klone.“
3.) Diego Rivera zit. nach Hayden Herrera: Frida Kahlo. Die Gemälde, Frankfurt/Main, Wien, München 1992, S. 72. Der Choreograph Johann Kresnik hat Frida Kahlos Biografie mit seinem Tanztheater auf die Bühne gebracht und das Bild „Die zwei Fridas“ nachgestellt. Zu den zwei durch Kostümierung und Schminke gleich aussehenden Tänzern gesellte er anschließend weitere Doubles mit dem Ziel, den Facettenreichtum der Person Kahlos, ihre unterschiedlichen Lebensalter und zugleich ihre Ich-Spaltung herauszukristallisieren. Mit seinem Kunstgriff der Multiplizierung bringt er ein Vielfaches von zwei Fridas auf die Bühne. Kresnik, der mit Vorliebe Biografien choreographiert (u.a. Ernst Jünger, Friedrich Nietzsche, Ulrike Meinhof), besetzt immer wieder in seinen Stücken die dazustellende Person durch mehrere Tänzer, um die Vielseitigkeit einer Person herauszuarbeiten und simultan darzustellen. Kresnik erstellt mit dieser Methode zwar Zwillinge oder Mehrlinge, doch stellen sie im jeweiligen Stück ein und dieselbe Person dar. Die Tänzer sind Repräsentanten einer Person. Insofern hat dies nichts mit dem Gedanken des Klonen zu tun.
4.) Keith Cottingham: Fictitious Portraits, in: Ausst.kat. „Fotografie nach der Fotografie“, Dresden, Basel 1995, S. 160.
5.) Keith Cottingham, ebenda, S. 160 ff.
6.) Kirsten Geisler, Virtual Beauties 1996-1999, Galerie Akinci, Amsterdam, Galerie Franck & Schulte, Berlin, 1999, o.S.
7.) Raimar Stange: Ich bin ich bin ich bin ich bin, ich – bin ich?, in: Ausst.kat. Martin Liebscher: Familienbilder, Hamburg 1999, o.S. In diesem Katalog finden sich Hinweise zu anderen, historischen Mehrlingsporträts wie z.B. Marcel Duchamps Fotografie von 1917 „Marcel Duchamp Around a Table“.
8.) Einar J. Børresen, Ausst.kat. Vibeke Tandberg: Living Together, Rogaland Kunstmuseum 1996, S. 21 f. Vgl. hierzu auch Angela Wenzel: Vibeke Tandberg, in: Ausst.kat. Ich ist etwas Anderes, Kunstsammlung NRW, Düsseldorf 2000.
Dieser Text erschien erstmals in der Zeitschrift „Kunst und Kirche“, Heft 1/2001, und er wurde für das KUNSTFORUM mit aktuellen Beispielen ergänzt.
Abschnitt Martin Liebscher
Auch Martin Liebscher (geb. 1964) und Loretta Lux (geb. 1969) visualisieren ihre eigene Person als multiplizierte Selbstdarstellungen, Mehrlinge, die mittels digitaler Bildtechnik erzeugt wurden. Ihre künstlerische Handlung erscheint wie ein Narzissmus, der alptraumhafte Züge annimmt und zu heiteren bis erschreckenden Visionen vom Kloning führt.
Im Gegensatz zu Wall und den Arbeiten von Vibeke Tandberg (s.u.) tragen die immergleichen Personen bei Liebscher und Lux im jeweiligen Bild die gleiche Kleidung, so, wie man es von Zwillingspaaren aus der Wirklichkeit kennt.
Martin Liebscher tummelt sich innerhalb eines Raumes im Dutzend auf seinen Panoramafotos, nimmt dabei aber unterschiedliche Haltungen ein. Seit 1993 produziert er diese Fotos als Serie mit dem Titel „Familienbilder“. Der Single gesellt sich selbst hinzu und ist so, im Verbund der Familie – in der alle Mitglieder nicht nur ähnlich, sondern identisch aussehen – nicht mehr allein. Die Multiplizierung des Selbst ist nicht nur eine Aussage im Hinblick auf den Egozentrismus und die Selbstironie, sondern auch eine Frage nach der eigenen Identität. Die Verschiedenheit der Gesten und Haltungen geben dem Bild den dynamischen Bildaufbau und narrativen Inhalt. Für sein „längstes Gruppenfoto der Welt“, auf dem er sich in 37 Meter Länge 205 Mal eingescannt hat, erhielt er den Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde. Bei näherer Betrachtung der Bilder fällt auf, dass Liebscher von allen Seiten und in verschiedenen Posen dargestellt ist, doch nur selten haben seine geklonten Konterfeis einen direkten Bezug zueinander. Es scheint, als würden sie nicht miteinander kommunizieren. So ist das Ich doch ein Anderer, vielleicht sogar ein Fremder? „An die Stelle des aufklärerischen Fichtschen ‚Ich ungleich Nicht-Ich‘ setzt der Künstler in seiner genüßlichen Identitätssuche ein redundantes ‚Ich gleich Ich und doch nicht gleich Ich'“, resümiert Raimar Stange.7
Kunstforum
Band 158,
JANUAR – MÄRZ 2002
Seite 156, DOKUMENTATION