Martin Pesch: Eine Wirklichkeit ist nicht von Nöten

Martin Pesch

„Eine Wirklichkeit ist nicht vonnöten“ – oder doch?

 
Der 23. April 1909 war ein recht unbedeutender Tag. Zumindest wenn man weltgeschichtliche Maßstäbe anlegt. In einer kleinen Nische menschlicher Erkenntnis und ihres Fortschritts leuchtet dieses Datum allerdings mit unverminderter Helligkeit. Nicht nur, weil diese dabei eine ganz besondere Rolle spielt. In Bordeaux hielt an diesem Tag der Augenarzt Dr. Etienne Ginestous einen Vortrag vor der Société de médicine et de chirurgie. Nachdem in Deutschland schon zwei Jahre zuvor eine Abhandlung über „Bedenkliche Neben-Erscheinungen“ des Kinobesuchs erschienen war, gibt Ginestous als erster einer Reihe von Augenbeschwerden, die er auf das Anschauen von Filmen in den damaligen Kinos zurückführte, einen Namen: „Les cinématophtalmies“. Die Symptome, die er darunter faßt, und die er in Fallbeispielen aus seiner Praxis schildert, sind gerötete Augen, leichte Bindehautentzündungen, Tränenfluß und Augenbrennen. Nichts Schlimmes also, und mit ein paar fachmännisch verabreichten Tropfen waren die Beschwerden meist schnell behoben.
Bemerkenswert ist aber, daß die „Cinématophtalmies“ die ersten medizingeschichtlich erwähnten Krankheiten sind, die auf das Benutzen eines neuen Mediums zurückgeführt wurden. Die Sinnesorgane, die Augen, wurden angegriffen, weil sie dem durch das damals gut zehn Jahre alte Kino vermittelten Bild der Wirklichkeit ausgesetzt wurden. Zum einen lag das an den noch nicht ausgereiften Projektionsmethoden, dem „Flimmern und Wackeln“,von dem die Berichte über die frühen Kinojahre erzählen. Zum anderen wurde die pathologische Augenrötung nach dem Kinobesuch als Bestätigung der Schädlichkeit dieses Mediums empfunden. Die „lebenden Photographien“, wie der Film anfangs genannt wurde, gaben ein für den menschlichen Wahrnehmungsapparat und insbesondere die ihm nachgeschalteten kognitiven Fähigkeiten nur schwer zu bewältigendes Abbild der Welt.
Heute mag man das drollig finden. Sind wir doch inzwischen mit ganz anderen Routinen der Bildproduktion konfrontiert. Und aus was anderem besteht noch unser Kontakt zur Welt als aus deren technisch hergestellten Abbildern? Selbst diese Frage erscheint uns so obsolet wie die Sorgen einiger Augenärtzte am Anfang dieses Jahrhunderts ob der Kinoleidenschaft ihrer Patienten.
Martin Liebscher hat jahrelang als Filmvorführer gearbeitet. Versiert also mit dem technischen Apparat, der notwendig ist, um ein Kinoerlebnis überhaupt erst zu ermöglichen, tritt in Liebschers künstlerischer Arbeit auch die technische Seite des Abbildens hervor. Oder: Die für das sichtbare Bild notwendige, aber neben ihm verschwindende, von ihm verdeckte Peripherie wird betont. Wer kennt schon die sogenannten „China Girls“, die im Vorspann jedes Kinofilms kurz und deshalb unsichtbar eingeblendet werden? Es sind Bilder von Frauengesichtern, deren Farbwiedergabe als Refernz für die zu erstellenden Kopien dienen. In einem von „Liebschers guten Fotobüchern“ kann man sie bestaunen. Und selbstverständlich spielt das „Filmische“ in seinen Fotografien eine so große Rolle, daß Martin Liebscher sich selbst wundert,
Film als Arbeitsmittel noch nicht benutzt zu haben: „Ich warte drauf.“
Er drückt den Auslöser eines Fotoapparats. Die Blende öffnet sich. Und bleibt offen. Liebscher hat das Gerät derart manipuliert, daß er bei geöffneter Blende einen ganzen Kleinbildfilm durch die Kamera kurbeln kann. Der gesamte Film wird so zu einem Foto. Der manuelle Transport des Films aus der Filmdose zur Spule erinnert an die Kameramänner in der frühen Zeit des Kinos, die auch eine Kurbel bedienen mußten (genauso an die Filmvorführer, die am Cinématographen im Kinosaal arbeiteten).
Je nach Bewegung des Fotoapparates entstehen unterschiedliche optische Eindrücke. Bleibt das Objektiv starr, werden die sich davor bewegenden Objekte ihrer Geschwindigkeit entprechend längenverzerrt abgebildet; wird die Kamera – wie beim Foto des Landeanflugs in Hong Kong – längs der Objekte bewegt, werden diese wellenförmig gezeigt; und bewegt sich Liebscher mitsamt der Kamera (in einem Auto sitzend, oder um die eigene Achse), beginnt der abgebildete Raum zu stürzen und die sich in im bewegenden Dinge, Fahrzeuge und Menschen verlieren Kontur, Richtung und Identität. Sie lösen sich auf,sobald die ihrer Abbildung zugrundeliegenden technischen Gesetze aufgehoben werden. Das „intensive Sehen“ (Moholy-Nagy), das seit Beginn als Versprechen die Fotografie begleitet hat, wird bei Liebscher zwar durch das lange Belichten des Films praktiziert. Sein Ergebnis konterkariert aber die einstige Intention: nichts ist zu bannen.
„Dem Zücken der Kamera wohnt Aggressivität inne,“ schreibt Susan Sontag. Sie begründet dies mit der Foto für Foto vollzogenen Atomisierung der Wirklichkeit. Jedes einzelne Foto wird zu einer Entität, zu einem Absolutum- formatiert, singulär, gerahmt. Bei Liebscher wird diese Aggressivität unterlaufen, indem die Objekte solange wie möglich abgebildet werden. Die Einzelbildteilung wird zu einem Anschmiegen des Films an die Objekte umgewandelt. Und das Offensein der Blende entspricht einer Offenheit gegenüber dem, was während der Dauer des Durchkurbelns des Films passiert. Die Kontrolle, die sich im Einzelbild durch Komposition, Perspektive, Lichtgebung verwirklicht, wird auf einen technischen Vollzug reduziert, der das Ungeplante sichtbar werden läßt.
Selbstverständlich ist das Sichtbarmachen des Ungeplanten auch bei Liebscher an bestimmte Vorgaben gebunden. Dazu gehören insbesondere die Formate von Filmen, Projektionen und Papierabzügen. In der diesen Formaten zugrundeliegenden Technizität steckt die Differenz zwischen dem natürlichen Sehen des Menschen und dem Wesen der fotografisch-filmischen Abbildung. Wir sehen nicht in 9 x 13 und der Weltausschnitt, den uns unsere Augen liefern, entspricht nicht einem technisch begründeten Größenverhältnis der Projektionsfläche. Daß Abbildungen – egal ob Film oder Foto – auf diesen Formatierungen beruhen, begründet ihre grundlegende Fiktivität. Selbst dokumentarische Aufnahmen erhalten durch sie mitunter eine Dramatik, die einen „bigger than life“-Effekt verursacht. Das klassische Beispiel ist die von Lumiére gefilmte Einfahrt einer Dampflokomotive in den Bahnhof von La Ciotat (1897). Daß die damaligen Zuschauer so überwältigt waren von dieser für sie eigentlich alltäglichen Szene und teilweise sogar dachten, der Zug rase in den Kinosaal, hatte keinen anderen Grund, als daß durch die flächige Abbildung ein Gegenstand sich umgekehrt im Quadrat seiner abnehmenden Entfernung vergrößert. Das Format der Projektion bewirkte also die Wucht, mit der die Lokomotive auf die Zuschauer zu-, aber schließlich links von ihnen aus dem Bildrahmen hinausfuhr. Diese Dramatik und die von vornherein, wie bewußt auch immer, akzeptierte Manipuliertheit der Bilder von der Welt macht deren Reiz aus. In diesem Sinn stellt der Filmhistoriker Martin Loiperdinger fest: „Die Zuschauer wollten nicht die Wirklichkeit auf der Leinwand sehen, sondern von der Wirklichkeit sich unterscheidende Bilder dieser Wirklichkeit.“
In Liebschers Fotografien hängt jener frühe Reiz dieser Differenz, aber es wird nicht so getan, als ob in den vergangenen hundert Jahren nichts passiert wäre. Die Dramatisierung, die von Kameramännern und Fotografen jahrzehntelang bestimmt wurde, setzt Liebscher auf eigene Art ein. Er vertraut bei der Aufnahme nicht mehr auf seinen Blick. Indem er sich bei geöffneter Blende bewegt, sich dreht, sich um die eigene Achse dreht, verschafft er sich keinen Überblick und faßt auch kein Objekt in den Blick. Diese auktorialen Gesten werden gebrochen, indem der eigene Standpunkt, indem die Kamera selbst bewegt wird – da sich das Objektiv bewegt, negiert es jeden Anspruch, ein objektives Bild zu vermitteln.
Das ist auch noch als Reflex zu sehen auf die Erschütterung des menschlichen Geistes und seines Vorstellungsvermögens durch den wissenschaftlichen (Wieder-)Beweis, die Erde sei nicht Zentralgestirn des sie umgebenden Universums, sondern bewege sich selbst nur um einen noch größeren und wichtigeren Himmelskörper. Wie Michel Foucault schreibt, war daraufhin der Ort einer Sache „nur mehr ein Punkt in ihrer Bewegung, so wie die Ruhe einer Sache nur mehr ihre unendlich verlangsamte Bewegung war“. Anders gesagt: seit Galilei, seit dem 17. Jahrhundert, setzt sich die Ausdehnung an die Stelle der Ordnung.“ Und in Martin Liebschers Bewegungsfotografien verliert sich diese Ordnung zugunsten einer Unsicherheit, die den eigenen Standpunkt miteinschließt.
In einer anderen Werkgruppe wird dies – vom bisher gesagten aus: ironisch -konterkariert. Denn Liebscher versichert sich des eigenen Standpunkts als hätte er die erste Strophe von Gottfried Benns 1952 geschriebenen Gedicht „Wirklichkeit“ verinnerlicht: „Eine Wirklichkeit ist nicht vonnöten, / ja es gibt sie garnicht, wenn ein Mann / aus dem Urmotiv der Flairs und Flöten / seine Existenz beweisen kann.“
In seinen „Familienbildern“ hat er sich selbst in Mehrfachbelichtungen vielfach abgebildet und so seine Existenz an öffentlichen Orten, in Privat-und Atelierräumen bewiesen. Dank Computer hat er diese räumliche Dreierordnung teils aufgehoben und läßt die verschiedenen Hintergründe innerhalb eines Fotos zusammenlaufen (wie zum Beispiel im „Längsten Gruppenfoto der Welt“). Man erinnert sich hierbei an alte Meisterwerke, in denen in einem Gemälde dieselben Personen verschiedene Zeiten und Räume durchlaufen. Dies waren meist religiöse Stationendramen. Beispiele dafür sind die „Genesis-Szenen“ in der um 840 in Tours angefertgten Grandvalbibel oder auch die „Begegnung an der Goldenen Pforte“ (um 1460) des sogenannten Meisters des Marienbildes, in der in einem Dreierschritt in einem Gemälde die Begegnung Joachims und Annas dargestellt ist.
Aber ist die Begegnung mit dem eigenen Abbild nicht auch ein verunsichernder Akt? Die Kulturgeschichte bietet sich widersprechende Darstellungen. Das eigene Spiegelbild dient der Beglaubigung der eigenen Existenz, es birgt die beruhigende Nachricht: ich bin da. Loudon Wainwright III beschreibt diesen Fall mit seltener Lakonie in seinem Song „Plane, too“ (1971), der nach der Aufzählung von Dingen und Menschen, die sich in einem Flugzeug befinden, in die Zeile mündet: „There is a mirror on the plane / Me, too.“ Die Verschränkung der inneren mit der äußeren Sphäre problematisieren De La Soul in ihrem Stück „Me, Myself and I“ (1989), indem sie die Frage nach dem Unterschied von „clothes“ und „soul“ an den „mirror, mirror on the wall“ delegieren. Wenn aber der Fall der Verselbständigung des Spiegelbildes eintritt, herrscht Schrecken, schierer Wahnsinn. Davon handelt Stellan Rye `s Film „Der Student von Prag“ (1913). In ihm wird gezeigt, wie Balduin, der Student, sein Spiegelbild verhökert, um sich in den Stand seiner aristokratischen Geliebten einzukaufen. Er ist von nun an der Verfolgte, er kann sich in die kleinste Gasse flüchten, sein Double steht schon in der dunklen Ecke – und als er es tötet, fällt er selbst sterbend um. Und finsteren Blicks sitzt Balduins lebendiges Spiegelbild auf seinem Grab.
Nichts davon in Martin Liebschers „Familienfotos“. Freundlich begegnen sich die computergestützten Liebscher-Klone in seinen Fotos, scherzen, musizieren und rekonstruieren an einer Stelle sogar gemeinsam das Cover von Jimi Hendrix´ LP „Electric Ladyland“. Da ist es nur konsequent, daß einige der Fotos schon in das Internet eingespeist wurden, wo man sich mittels avancierter VR-Technologie in ihnen bewegen kann. Zumindest kann man hineinzoomen, den Blickwinkel ändern und am Bildschirm etwas vom leicht mulmigen Gefühl sublimieren, das einem dennoch vor den zweidimensionalen Versionen befällt. Andere Wirklichkeiten. Es werden immer mehr.

Martin Pesch
März 1997


In Liebschers Kunstkalender 1997/98 zu CRASH, Forum, Frankfurt

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