Raimar Stange: Ich bin Ich bin Ich bin Ich bin, Ich – bin Ich?

Zu den „Familienbildern“ von Martin Liebscher



I.
Zunächst Technisches: in Martin Liebschers „Familienbildern“ macht der Künstler mit Hilfe eines Selbstauslösers einzelne Aufnahmen von seiner Person an einem Ort. Dabei posiert er in unterschiedlichen Haltungen und Gesten z.B. in „Downtown“ (1997) in Los Angeles, in seiner Frankfurter „Küche“ (1996) oder mit Pudelmütze in „Hamburg“ (1996) im Hafen. Diese Photos werden dann in den Computer eingescannt und anschließend von Martin Liebscher in Photoshop zusammengefügt. Rein technisch gesehen ist das natürlich Photoshop für Anfänger. Da die einzelnen Bilder aber eine so hohe Auflösung haben, daß sie als Kleinbild Dia wieder ausbelichtet werden könnten, und da die Pixel kleiner als das photographische Korn sind, ist niemals zu sehen, daß die Bilder jemals im Rechner waren. So werden bei dieser manipulierten Photographie verschiedene Zeitpunkte in einem Raum auf einem Bild zusammengefügt. Bisheriger Höhepunkt dieser Arbeit ist das „längste Gruppenphoto der Welt“, mit dem der Künstler sich 1998 in das Guiness-Buch eintragen konnte: immerhin 205 mal hat sich Liebscher in dieses 37 m langen Photo eingescannt.
 



II.
Berlin, Warschauer Straße: Ich steige ein in die S-Bahn und der gelb-rote Zug fährt an, beschleunigt vom Start weg und verwischt schnell meinen Blick, denn ab geht die Post in Richtung Berlin Alexanderplatz: Leute steigen aus und zu, ich aber betrachte die vorbeirauschenden Leuchtreklamen vom Burger King, Kaufhof und dem Forum-Hotel, daneben das große, hochhängende Werbedisplay ­ Zoom in Richtung der bewegten Bilder: ein Werbespot für selbstentworfene Schuhwerke des jungen österreichischen Künstler Markus Schinwald flimmert gerade da oben, danach Sport-News und Wettervorhersage.

Doch weiter geht meine Fahrt und weiter läuft der rasante Film hinter den holzgerahmten Fenstern meines Abteils ab: aggressive Graffities, ein typischer Gebrauchtwagenhandel mit den obligatorischem silber-blauen Lametta und dazwischen Häuser, Häuser, Häuser – ich aber sitze inzwischen mutterseelenalleine und doch umgeben von ganz Vielen in diesem bewegten Unort, denn ich „besitze“ jetzt alle Plätze, schlage traumhafte Purzelbäume auf dem Gang, mache einen artistischen Handstand vor dem Ausstieg, imitiere im selben Moment den Gang eines Freundes und liege gemütlich auf den Bänken dieses seltsam zeitlosen Raumes, der sich zunehmend seltsam biegt, fast psychedelisch wellig wird und doch immer zurückfindet zu seiner angestammten, „ordentlichen“ Form: Ein bewegender Loop gleichsam, der dennoch Start und Ziel hat, der dennoch sich fortbewegt in Richtung Bahnhof Hackescher Markt: Dort steige ich berauscht aus und meine Beisitzer begleiten mich alle.

So bin ich stets mit mir allein, bin mein phantastischer Held, mein eigener Gegner, ungezwungener Zuschauer und fröhlicher Mitspieler zugleich. Ich bin mir Vorbild genug, agiere als Pose meiner selbst, nur manchmal auch als Kopie anderer ­ und schon bin ich mehr als nur Einer, nicht „Einer für Alle“, sondern eher „Alles in Einem“: Die programmierte „Vielkörperlichkeit“ läßt im virtuellen Schein meinen Körper endlich wieder auferstehen. Paradoxerweise gelingt es der Wiederholung des symbolischen Körpers nämlich, zumindest im Moment des ersten Betrachtens, zwar keine Identität, sehr wohl aber ein Gefühl für den Körper zu revitalisieren. Genau wie Gertrude Stein den Duft der Rose erst wieder für sich entdeckte als sie schrieb: „A rose is a rose is a rose ….“.

 

 



III.
Der französische Strukturalist und Kulturkritiker Roland Barthes betonte in seinem Buch „Die helle Kammer“ bekanntlich die Qualität des Photos „Zeitzeugenschaft“ auszudrücken: „Wichtig ist, daß das photographische Bild eine bestätigende Kraft hat und daß die Zeugenschaft der PHOTOGRAPHIE sich nicht auf das Objekt, sondern auf die Zeit bezieht“(1) Diese als untrüglich gedachte Zeugenschaft leitet Roland Barthes ab von der tatsächlich einmal stattgefundenen Lichteinwirkung auf den photographischen Film: „Eine Art Nabelschnur verbindet den Körper des photographierten Gegenstandes mit meinem Blick: das Licht ist hier, obschon ungreifbar, doch ein körperliches Medium, eine Haut, die ich mit diesem oder jener teile, die einmal photographiert worden sind“(2).

Bei Martin Liebschers „Familienbildern“ ist das so nicht der Fall: Die Computerbearbeitung der Photos, genauer die hineingestellten „visuellen Klonen seiner selbst“, reduzieren die besagte Zeugenschaft der Photographie auf die des Ortes. Nur dieser nämlich ist „original“ abgelichtet, die multi-menschliche Szenerie dagegen wurde, wie oben beschrieben, später am Bildschirm aufgebaut. Die „Nabelschnur“ hin zur Zeit beginnt sich zu verwirren, weil neben dem für Roland Barthes so wichtigen chemischen Prozesses, bei Martin Liebscher elektronische High-Tec steht, die der Künstler ganz selbstverständlich für seine Kompositionen nutzt. So mischt er den realen Ort der Handlung und den utopischen Nicht-Ort der mehrfachen Präsenz des eigenen Körpers zu einer einzigartigen „Hetereotopie“ (Michel Foucault) des Dazwischen. Diese Hetereotopie Marke Liebscher erinnert in ihrer bildlichen Erscheinung oftmals an Filmstills, hält also ein Gleichgewicht von Bewegung und Statik. Dabei wirkt dieser Bilderkosmos seltsam überdreht, mal eher lächerlich, mal eher absurd und windet sich doch glasklar zwischen Simulakrum und Realität.



 IV.
Multiple Persönlichkeiten, geklaute Ich-Versionen a la Madonna, das Subjekt als Klischee seiner selbst ­ der postmoderne Diskurs in Philosophie und Kunst hat sich lange an diesem Topos der in Frage gestellten Subjektivität(3 )- wie auch an dem beschworenen Tod des Autors – theoretisch festgebissen. Die junge Cindy Sherman etwa photographierte immer wieder ihr eigenes Porträt – jedesmal aber in der Rolle eines Filmstars, jedesmal als lebendig gewordenes Modell, das sich im selbstgeschoßenen Photo in fremder und angelernter Pose verewigte(4).

Martin Liebscher kennt natürlichen diesen Diskurs genau, bezieht sich aber eher spielerisch, ja unterhaltend auf ihn: „Have fun“ fordert er dann auch die User seiner CD­ROM „Leebsher’s visual repairs“ auf. An die Stelle des aufklärerischen Fichtschen „Ich ungleich Nicht-Ich“ setzt der Künstler in seiner genüßlichen Identitätssuche ein redundantes „Ich gleich Ich und doch nicht gleich Ich“. Damit erledigt er mit wenigen Tastdrücken an seinem Computer im Handumdrehen jedwede Vorstellung von Identität, diese nämlich baut darauf – schon der lateinische Wortsinn des Begriffes betont es -, daß ein einziges Ich in jeder Situation „immer gleich“, eben mit sich selbst identisch ist. Martin Liebschers Abbilder aber stimmen nicht einmal an dem gleichen Ort mit sich selbst überein: Zwar tragen die „Familienmitglieder“ meist alle dieselbe Kleidung und sehen sich zum Verwechseln ähnlich, doch treten sie an diesem nur einem Ort zusammen in unterschiedlichsten Posen auf. So pflanzt der Artist sich – man denke an den fünffach am Tisch sitzende Marcel Duchamp auf dem Photo „Marcel Duchamp around a table“ (1917) oder an die sich kaleidaskopartig vervielfältigende Brigitte Bardot in dem Louis Malle-Film „Viva Maria“ (1965) – gleichsam ohne zeitliche Differenz fort, seine Nachkommen oder Klone sind so alt wie er auch. Ein gentechnologischer Alptraum, der wahrscheinlich längst schon Wirklichkeit ist, und künstlerische Omnipotenz zugleich werden hier nicht unironisch vorgeführt.

 

V.
Last but not least: Martin Liebscher trägt zur Zeit eine eigenartige Armbanduhr mit zwei Zifferblättern in einem Gehäuse. Beide zeigen scheinbar die selbe Zeit an, die eine jedoch geht drei Jahre nach – es ist die Zeit seiner Heimatstadt. Wie gesagt: gleich ist nicht immer gleich.

 

 



1) Roland Barthes, Die helle Kammer, ed. Frankfurt aM 1989, S. 99
2) ebenda, S. 91
3) siehe etwa: Wolfgang Welsch, Ästhetisches Denken, Stuttgart 1991, Kapitel „Identität im Übergang“ S. 168 ff
4) siehe dazu auch 3)

 



Raimar Stange, im Februar 1999


MARTIN LIEBSCHERs FAMILIENBILDER
32 Seiten, 24 x 28 cm
Konzept und Layout: Martin Liebscher
Text: Raimar Stange
Ausschnitte von Stanislav Lem
Herrausgeber: Cato Jans
Hardcover, 1. Auflage 1999, 1000 Stk
Dölling und Galitz Verlag GmbH, Hamburg
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