Jan Peter Bremer: Martin Liebscher

Ich war bester Laune. Nichts strengt mich so an wie Auftragsarbeiten.
Nun aber hatte ich meinen Text zu den Fotoarbeiten von Martin Liebscher eben im Park beendet und saß jetzt, zurück zu Hause, in übermütiger Stimmung in meinem Sessel.
Gerade warf ich einen Apfel in die Luft, als es an der Tür klingelte.
Ich schreckte auf. Hart fiel der Apfel auf das Parkett. Dann klingelte es wieder.
Ein jüngerer Mann stand vor der Tür. „Sind Sie Herr Bremer?“ fragte er mich.
„Richtig,“ sagte ich und starrte auf die Tasche, die er jetzt hinter seinem Rücken hervorzog. „Die habe ich gerade im Park gefunden,“ sagte er.
Ich sah meine Hand nach vorn schnellen. „Zeigen Sie her!“ rief ich, riss die Tasche an mich, warf einen Blick hinein und sank erleichtert in die Knie. „Es ist alles noch da,“ murmelte ich und griff mir dabei ans Herz. Dann blickte ich noch einmal in die Tasche. Der Pass war da, mein Geld, aber vor allen Dingen mein Notizbuch mit dem Text zu den Fotoarbeiten von Martin Liebscher und während der kurze, heftige Schrecken jetzt wohlig und warm in mir nachbebte, sah ich mich auf der Bank im Park sitzen, sah die schwarzhaarige Schönheit wieder an mir vorbeiflanieren, sah, wie ich mich gleichsam schwerelos erhob und ihr mit beschwingten Schritten und einem tadellos überzeugendem Ausdruck im Gesicht folgte.
Erst als sie über einige Umwege, zufällig auch an meinem Haus vorbei kam, ließ ich von ihr ab, stieg stattdessen die Treppen hinauf und hatte gerade einen Apfel in die Luft geworfen, als es…
Von der Fußmatte, auf der ich kniete, sah ich dankbar zu dem jüngeren Mann hinauf.
„Wollen Sie nicht für einen Moment herein treten?“ fragte ich und da er dies ohne Umstand tat, erhob ich mich und folgte ihm. „Wohnen Sie in der Stadt?“ fragte ich.
„Nein,“ sagte er, „ich sehe mich nur um. Ein schönes Zimmer,“ fuhr er fort, indem er vom Flur aus einen Blick in mein Arbeitszimmer warf.
„Dann wohnen Sie wohl in einer Pension,“ sagte ich. „Wissen Sie was,“ setzte ich, bevor er antworten konnte, nach, „Sie haben wirklich etwas bei mir gut und da Ihnen mein Zimmer zu gefallen scheint, ist es mir ein Anliegen, Ihnen anzubieten, für die Ihnen verbleibende Zeit bei uns zu wohnen. In der Tasche, die Sie heute die Freundlichkeit hatten, für mich wieder aufzufinden, ist nämlich ein Text, an dem ich in den letzten Wochen so ausgiebig in diesem Zimmer gearbeitet habe, dass ich es in den nächsten Tagen, wohl kaum betreten will. Deswegen wäre es mir eine Freude, es Ihnen zur Verfügung zu stellen.“
Der jüngere Mann wandte sich zu mir um. „Das wäre mir nicht nur eine große Freude, sondern auch eine große Ehre,“ sagte er.
„Eine Ehre!“ rief ich, „wie schön Sie sich auszudrücken wissen. Nein,“ sagte ich und schüttelte den Kopf. „Die Ehre wäre ganz meinerseits. Holen Sie einfach Ihre Sachen und kommen Sie heute Abend wieder,“ und damit begleitete ich ihn auch schon zur Tür hinaus.

Es war nur so, dass ich, als es dann am Abend bei uns klingelte, den Finder meiner Tasche schon vollständig vergessen hatte. Meine Frau berichtete mir von ihrer Arbeit, die Kinder tobten dabei lautstark um uns herum, das Essen kochte auf dem Herd und während ich so dastand, wanderten mir noch einmal die Sätze durch den Kopf, die ich zu den Fotoarbeiten von Martin Liebscher verfasst hatte.
Als ich dann mit dem jüngeren Mann in die Küche trat, blickte meine Frau nicht nur fragend, sondern auch etwas unwillig auf den Gast. Seit Wochen war sie von ihrer neuen Arbeit ziemlich angestrengt.
„Dieser Herr hat heute im Park meine Tasche gefunden und netterweise umgehend zurück gebracht,“ erklärte ich. „Dafür habe ich ihm im Gegenzug angeboten, für ein paar Tage bei uns zu wohnen. Kommen Sie,“ sprach ich jetzt zu ihm und entzog mich so dem Blick meiner Frau, „wir gehen schnell hinunter auf ein Bier.“
Der jüngere Mann nickte. Er erschien mir jetzt doch etwas älter, als noch am Vormittag.

Der Wirt in meiner Stammkneipe kam sofort mit seinem derzeitigen Lieblingswitz an unseren Tisch geeilt. „Wie nennt man einen Bumerang, der nicht zurück kommt?“ fragte er und nahm meinen Gast dabei scharf ins Auge.
„Stock,“ sagte der, „und zwei Bier hätten wir gern.“
Der Wirt sah zu mir hinüber. „Dein Freund scheint ein Klugscheißer zu sein,“ sagte er.
„Das glaube ich gar nicht,“ sagte ich. „Ganz im Gegenteil,“ widersprach ich jetzt entschieden. „Ich glaube sogar, dass er ein sehr guter Mensch ist. Er hat heute im Park meine Tasche gefunden und sie mir nach Hause in die Wohnung zurück gebracht. Mein Pass war darin, auch Geld, aber noch wichtiger mein Notizbuch mit einem komplett ausgearbeiteten Text zu den Fotoarbeiten von Martin Liebscher.“
„Das wiederum ist ein Grund zum Feiern,“ sagte der Wirt. „Dann nehmt ihr doch bestimmt auch zwei Brände dazu.“
„Selbstverständlich!“ rief ich.
„Wissen Sie,“ sagte mein Gast, nachdem wir den Brand gekippt hatten. „Ich würde auch gern dieses Handwerk erlernen.“
„Welches?“ fragte ich.
„Das Handwerk des Schreibens, das Sie betreiben.“
Ich sah auf die großen Ringe an meinen Fingern hinab, die auch in dieser schummrigen Beleuchtung noch wunderbar glänzten.
„Das ist kein Handwerk,“ sprach ich in den Raum. „Das Handwerk daran ist nur die Verbindung zu der tollkühnen Intuition, die aber das eigentliche bleiben muss. Ich kann Ihnen, wenn Sie möchten, in den nächsten Tagen mal meinen neuesten Text vorlesen. Es ist eine Betrachtung über die Fotoarbeiten von Martin Liebscher. Wenn Sie danach noch das Verlangen und auch den Mut haben, können Sie sich gern in meinem Arbeitszimmer an Eigenem probieren. Wissen Sie,“ fuhr ich fort und holte sehr tief Luft. „Das Schreiben geschieht auf vielen Ebenen. Es ist einerseits in uns und andererseits vor uns.“ Ich sah zu meinem Gast hin. „Verstehen Sie, was ich meine?“ fragte ich und da er erwartungsvoll nickte, begann ich einen Vortrag über das Schreiben, der mir, wenn auch an einigen Stellen etwas zu ausufernd und gestelzt, dennoch blendend geriet.
Zwischendurch winkte ich immer wieder den Wirt herbei. „Das Vorherige,“ sagte ich und da mir die Zunge doch allmählich etwas schwerer wurde und ich auch meinen Vortrag nicht immerzu unterbrechen wollte, hörte ich fortan meinen Gast diese beiden Worte an den Wirt richten. ‚Wie aufmerksam,’ dachte ich jedes Mal, aber nur ganz kurz, um den Fluss des Vortrags nicht zu gefährden, der nun doch allmählich an Fahrt verlor. Ein paar Mal konnte ich mich noch dagegen stemmen und den Vortrag wieder in die Luft heben, indem ich laut den Namen ‚Martin Liebscher!’ rief. Später jedoch war ich auch dazu fast zu erschöpft. Wenn ich mich recht erinnere, saß ich irgendwann fast ein bisschen melancholisch am Tisch und sah meinen Gast, der sich lebhaft mit sämtlichen anderen Gästen unterhielt. ‚Er ist ja auch nicht so angestrengt, wie ich,’ dachte ich noch und dann gab ich mich ganz der Musik hin, die vom Tresen wie auf Schwingen getragen in mein Ohr segelte. ‚Wie nennt man einen Bumerang, der nicht zurück kommt’ baute eine tiefe, wohlgeformte Stimme mit allen Mitteln der Kunst eine schier unendliche Spannung auf und dann erschall aus tausend Stimmen plötzlich ein himmlischer Chor: ‚Stock!’ sang er, und eine Trompete spielte einsam vor sich hin.

Am nächsten Morgen, als ich barfuss durch die Wohnung lief, war mir ein wenig schummerig. Aus der Küche roch es nach frisch gebrühtem Kaffee. Ich aber dachte nur an meinen Sessel, an den weiten Weg bis dorthin und das atmen auch eine schwierige Aufgabe ist. Am Bücherregal machte ich kurz halt und sah, dass die Tür zu meinem Arbeitszimmer offen stand.
Als ich eintrat blickte mein Gast von meinem Schreibtisch zu mir hinauf.
Ich zog den Reißverschluss meiner Hose noch ein Stückchen höher und obwohl ich Rechtfertigungen an sich nicht mag, mich aber, soweit ich mich an die letzte Nacht erinnerte, in einem Zustand zumindest wähnte, der nach einer Begründung suchen könnte, sagte ich: „Wissen Sie…Wissen Sie, „ wiederholte ich und spürte wieder den gleichen harten Schmerz in meiner trockenen Kehle. „Wissen Sie,“ sagte ich daher noch einmal und räusperte mich. „Wissen Sie,“ sprach ich jetzt in den Raum, „es ist übrigens mit jedem geglücktem künstlerischen Versuch so, dass er seinen Urheber in eine Euphorie versetzt, die den alltäglichen Rahmen sprengt und die den Urheber daher für den Moment sehr besonders werden lassen kann und ebenso erging es mir gestern, wobei der Anlass die Fertigstellung des Textes zu den Fotoarbeiten von Martin Liebscher darstellte.“
Mein Gast blickte zu mir hinauf. „Ich war schon unten im Schreibwarenladen,“ sagte er und erst jetzt sah ich, dass er genau das gleiche Notizbuch, das auch ich benutzte vor sich liegen hatte und auch den gleichen Stift in der Hand hielt. „Haben Sie denn schon etwas geschrieben?“ fragte ich.
„Ich bin gerade dabei,“ sagte er und beugte sich auch schon mit dem Stift zu dem Notizbuch hinab.
Es war aber ein Grauen zu sehen, wie schief und ungelenk er das tat. Viel zu steil setzte er den Stift auf das Papier auf und weil allein das Betrachten dieses Vorganges eine schlimme Verzweiflung in mir auslöste, sagte ich: „Lassen Sie mich mal ran.“ Er räumte mir auch sofort bereitwillig den Platz.
Ich drehte den Kopf im Nacken, schüttelte die Arme aus und dann, nach einem tiefen Atemzug, nahm ich auf meinem Stuhl Platz. Anfangs strich ich mit den Fingern nur zart über die Tischplatte, dann erst, nachdem ich das Papier langsam in Augenschein genommen hatte, nahm ich den Stift in die Hand, beugte mich sachte vor und setzte ihn zart und doch mit sicherem Druck auf das Papier auf. Hundert Jahre, dachte ich, könnte ich so sitzen bleiben. So sehr genoss ich meine Pose, dass ich den Gast fast vergaß. ‚Martin Liebscher,’ flüsterte ich mehrmals leise. Dann erst sah ich wieder zu meinem Gast hinauf. „Ist das nicht wunderschön?“ fragte ich und da er nickte, erhob ich mich und sagte: „Probieren Sie es nun noch mal.“
Schon an der Art wie er sich jetzt die Arme ausschüttelte, bemerkte ich eine ganz neue Gewandtheit an ihm. Auf dem Stuhl nahm er bereits mit einer großen Grazie Platz und da er sich jetzt vorbeugte und den Stift auf das Papier aufsetzte, da war er ein reines Ebenbild meiner selbst.
Für eine Weile genoss auch er, genau wie ich, den Moment. Dann sah er erfüllt und stolz zu mir hinauf und in seinen Augen spiegelte sich die Größe des Glückes, die ich zuletzt erfuhr, als ich an meinem Text zu den Fotoarbeiten von Martin Liebscher schrieb.
„So!“ rief ich und klatschte in die Hände, „jetzt aber schnell ans Frühstück und danach mache ich mich im Haushalt nützlich. Wenn Sie möchten, können Sie mir dabei ein wenig zur Hand gehen, aber verlangen tue ich es natürlich nicht. Und jetzt beeilen Sie sich bitte, sonst wird der Kaffee noch kalt.“

An diesem Tag begleitete er mich auf allen meinen Gängen und schon am nächsten Tag bewegte er sich bei uns, als ob er noch nie woanders gewesen sei.
Die Kinder waren von Anfang an begeistert von ihm.
Bis in den Abend hinein ritten sie auf seinem Rücken. Zum Tagesende dann baten sie ihn, ihnen im Bett noch eine Geschichte vorzulesen und kaum, dass er das Buch aufgeschlagen hatte, räkelten sie sich schon in einen wohligen Schlaf.
Morgens wartete er immer an der Wohnungstür auf sie und wenn sie ihm dann freudig entgegen eilten, nahm er sie an ihren kleinen Händen und führte sie zur Schule. Auf dem Rückweg erledigte er dann gleich alle Einkäufe.
Die ganze Straße grüßte ihn bereits und meistens kehrte er mit Blumen zurück, die er geschenkt bekommen hatte. Das Wohnzimmer sah bald aus, wie für eine Hochzeit ausstaffiert.
„Für Sie,“ sagte er immer, wenn er mir die Blumen überreichte.
„Wofür denn?“ fragte ich.
„Dafür,“ sagte er, „dass Sie so einen schönen Text über die Fotoarbeiten von Martin Liebscher geschrieben haben.“
„Möchten Sie denn den Text heute mal hören?“ fragte ich und sah mich selbst dabei, wie ich zu ihm hinauf strahlte.
„Später vielleicht,“ sagte er, „zuerst will ich selbst ein bisschen in meinem Notizbuch arbeiten. Außerdem wartet in der Küche noch der Abwasch.“

Doch nicht nur die Kinder liebten ihn.
Auch meine Frau, in den letzten Wochen immerzu angestrengt, blühte, seit er bei uns wohnte, wahrhaft auf.
Tatsächlich grenzte es fast an Zwang, wie unbedingt er um ihre Gunst warb und natürlich war meine Frau, wenn sie abends erschöpft von ihrer Arbeit kam, erfreut über das einfache aber gute Essen, dass er auftischte, ebenso darüber, das die Wohnung geputzt war, die Kinder längst ihre Schulaufgaben gemacht hatten und insgesamt eine Ausgeglichenheit herrschte, die sie sonst nicht vorfand. Deshalb verstand ich auch, dass es meiner Frau keinerlei Bedrängnis war, unseren Gast zu fragen, wie lange er denn noch bleiben würde. Im Gegenteil reckte sie sich in unerwarteten Momenten plötzlich federleicht zu ihm hinauf und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
Der einzige, dem dieses leichte, sorglose Leben nicht immerzu fasslich erschien, war ich.
Immer häufiger fühlte ich an den einsamen Vormittagen, wenn ich mit unserem Gast allein in der Wohnung war, eine kaum zu bekämpfende Unzufriedenheit in mir aufsteigen. Dann versuchte ich an den Text zu denken, den ich zu den Fotoarbeiten von Martin Liebscher verfasst hatte. Doch wurde es mir zunehmend mühsamer dieses Glück zu halten. Schon jagten wieder dunkle Wolken über mich hinweg und mit meinem Notizbuch in der Hand, tigerte ich in der Wohnung herum.
Ich fand jedoch nirgends einen Platz. Überall, wo ich mich hinsetzen wollte, ob im Wohnzimmer, im Kinderzimmer, sogar im Schlafzimmer, saß er bereits, hatte sein Notizbuch großzügig vor sich aufgeschlagen, oder hielt es geschickt auf den Knien oder beugte sich gerade zu dem Beistelltisch hinunter. Selbst wenn ich mich für eine Notiz an die Wand lehnen wollte, lehnte er schon davor und blickte mich mit Augen an, die mir sogleich verrieten, dass er gerade einen Gedankengang vollendet wusste.
Dieser Umstand, gepaart mit der Tatsache, dass ich seit dem Text zu den Fotoarbeiten von Martin Liebscher, kein einziges Wort mehr geschrieben hatte, ließen mich in eine sich von Tag zu Tag steigernde Verunsicherung geraten. Hinzu kam, dass bisher niemand, außer mir selbst, meinen Text zu den Fotoarbeiten von Martin Liebscher kannte. Meine Frau nicht, die Kinder auch nicht, nicht einmal Martin Liebscher selbst. Wie eingesperrt lag er in meinem Notizbuch.
Wahrscheinlich aus all diesen Gründen, wandte ich mich nachts im Bett noch einmal zu meiner Frau um. Sie lag mit offenen Augen da, blickte versonnen vor sich hin, und es schien mir, als lebten in ihr gerade Vorstellungen, die meinen ganz zuwider liefen, denn was ich mir jetzt wünschte, war Bestätigung, vielleicht sogar Trost.
Dennoch fasste ich mir ein Herz und fragte sie, ob sie noch immer die Erleichterung darüber empfinde, dass ich den Text zu den Fotoarbeiten von Martin Liebscher vor einiger Zeit beendet habe. „Erleichterung,“ antwortete sie, „und noch viel mehr. Als ob das Leben mir neu überreicht worden sei, so fühle ich seitdem und so will ich auch in Zukunft fühlen.“
Es war jedoch so, dass sie während ihrer Worte, gar nicht zu mir hingesehen hatte, sondern ihren Blick unentwegt auf die Tür gerichtet hielt.
Auch ich starrte jetzt auf die Tür. Wie gebannt starrte ich auf sie und mit einem Mal hörte ich ein Knarren, ein regelmäßiges Knarren, das nur von Schritten kommen konnte, die leise vor der Tür auf und ab gingen. Ich beugte den Kopf unauffällig vor und jetzt vernahm ich noch ein anderes Geräusch, etwas Nervöses, ein Schnipsen, ein Schnipsen wie es der erwartungsfrohe Mensch vorweg in seiner Aufregung mit den Fingernägeln betreibt. Meine Frau, obwohl ganz still, lag wie in größter Spannung neben mir und obwohl ich es mir immer wieder streng verbat, sah ich von Sekunde zu Sekunde immer deutlicher unseren Gast vor mir, sah, wie er sich in der letzten Zeit auch tagsüber vermehrt um das Schlafzimmer herumgetrieben hatte, sah das verschmitzte Gesicht, dass er manchmal plötzlich hervorzauberte, wenn meine Frau ihn ansah und sah auch wieder die Röte, die ihr dann immer gern hochstieg und während ich das alles immer wieder sah, wurde mir bewusst, dass ich wartete.
Doch wollte der Schlaf meine Frau nicht ereilen. Erst als die Nacht fast vorüber war, sanken ihr die Augenlider nieder, zwei enttäuschte Kinder, denen ein gegebenes Versprechen nicht gehalten wurde.
Ich wartete noch ein paar Minuten, dann erhob ich mich katzengleich aus dem Bett, umklammerte fest den Kerzenständer, riss die Tür auf und sah unseren Gast nackt zur Seite weghuschen. Sofort setzte ich ihm nach, aber es war schwierig in der dunklen Wohnung und dieser Mensch, das begriff ich immer besser, war darin geübt sich leise zu bewegen.
Einmal scheuchte ich ihn im Bett unseres Sohnes auf, dann hatte ich ihn hinter dem Kühlschrank schon fast gestellt. Ein anderes Mal hatte ich ihn sogar mit der einen Hand gepackt. Gerade holte die andere mit dem Kerzenständer aus, als er mir wieder entglitt. Ich stöhnte auf. Die Kräfte schwanden. Trotzdem blieb ich bedingungslos. Immer weiter setzte ich ihm nach und endlich sah ich, wie er durch den Flur zur Wohnungstür hinauszischte.
Eine Weile stand ich einfach nur da, schwach und von Ekel geschüttelt. Dann trat ich zur Tür verriegelte sie, ging in mein Arbeitszimmer und ließ mich an meinem Tisch nieder.
Der Tag warf das erste fahle Licht ins Zimmer und ich sah auf sein Notizbuch herab, das vor mir auf dem Tisch lag.
Die Kinder kamen herein und ich schickte sie allein zur Schule. Als meine Frau später, um zur Arbeit zu gehen, das Wohnzimmer durchquerte und mir nicht einmal einen Blick zuwarf, schloss ich die Augen.
Als ich sie wieder öffnete, stand die Sonne bereits hoch am Himmel.
Ich erhob mich, nahm sein Notizbuch, steckte es in meine Tasche und ging in den Park.
Auf einer Bank zog ich das Notizbuch aus der Tasche hervor.
Wie ich es erwartet hatte, fand ich über unzählige Seiten hinweg nur unlesbares Gekritzel. Dann aber setzte sich plötzlich eine helle und überaus saubere Schrift ab.
Ich begann zu lesen und nur die Tränen, die mir schon bald in die Augen traten, störten ein wenig, denn was ich dort, in herrlicher Schrift, bis zur Gänze beglückt, in mich aufsog, das waren wunderbare Worte, das war mein Text zu den Fotoarbeiten von Martin Liebscher.
Benommen warf ich das Notizbuch in die Tasche zurück. Das Leben ist so lebenswert, dachte ich und wie Menschen es nur tun, die ihre Stimmung bis ins grenzenlose zu überziehen wagen, begann ich mir selbst einen Witz zu erzählen, den ich vor kurzem gehört hatte.
„Wie nennt man einen Bumerang, der nicht zurückkommt,“ flüsterte ich mir zu, doch als ich mir gerade die Antwort geben wollte, erstarb sie mir im Mund, denn eine schwarzhaarige Schönheit flanierte an mir vorbei und gleichsam schwerelos erhob ich mich, um ihr zu folgen.

Jan Peter Bremer in 

Einer für Alle, Hatje Cantz 2009

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