Andreas Bee: Punktzeit

„Der Mensch ist ausgesetzt in die reißende, gierige, verschlingende Zeit, geworfen in einen Punkt Zeit, er >hängt< in einem Punkt Zeit; die Zeit flieht in rasender Geschwindigkeit, sie ist eigentlich gar nicht.“ 
Seneca

 

Punktzeit

Der Blick geht von links nach rechts, von rechts nach links, auf und ab, durch helle und dunkle Zonen, durch irritierend verwirbelte Vorder- und Hintergründe, mal schneller und mal langsamer fortschreitend, wie auf einer optischen Achterbahn, die sich durch Zeit und Raum schlängelt. Kaum läßt sich in den Panoramen Martin Liebschers ein klares, eindeutiges Ziel ins Visier nehmen. Ganz verschwunden ist der eine feste Punkt, auf den sich alle Linien beziehen und aus dem heraus sich das Bild auf konventionelle Weise entschlüsseln ließe. Selten nur noch zeigt sich ein Orientierung stiftender Horizont, der in der Lage wäre, den kreiselnden Blick in Balance zu halten. Die Welt scheint vollends ins Trudeln geraten zu sein. Solche Bilder reizen die Nerven wie das Griffelkratzen auf der Tafel. Sie machen aber auch hellwach und stimulieren die trägen Augen nachhaltig.
Von Anfang an steht fest: Liebschers Bilder haben mit Geschwindigkeit, mit Be- und mit Entschleunigung zu tun. Schon in der ersten Begegnung mit ihnen erfährt man etwas von den unterschiedlichen tempi innerhalb der Aufnahmen, von den Möglichkeiten Zeit zu dehnen und zu komprimieren. Der auf Ordnung und Übersicht erpichte Blick etwa wird hart gebremst, um schon im nächsten Moment wieder in einen schwindelerregenden Strudel gezogen zu werden. Da ist zum Beispiel die Aufnahme aus einem Hubschrauber auf New York, die in all ihren Facetten von Beschleunigung erzählt. Wir sehen den durch rotierende Flügel bewegten Flugapparat in Aktion und begreifen, daß die Kamera selbst während der Aufnahme in Bewegung gewesen sein muß und der Film bei offener Linse gespuhlt wurde. Wir registrieren die im Abzug kondensstreifenähnlichen Verwischungen der Objekte, die schon für sich genommen Geschwindigkeit suggerieren, dann die einem Auf- und Abschwellen in der Musik vergleichbaren Belichtungsschwankungen und nicht zuletzt jene wie Taktstriche das extreme Querformat rhythmisierenden Vertikalen. All das hat einen Nenner, hat ein Ziel: die Darstellung von Bewegung im Raum. 
Ähnlich verdichtet sind auch die Schwenks aus fahrenden Autos. Wieder werden Innen- und Außenraum verschmolzen, abermals fließen verschiedene Bewegungen auf den unterschiedlichsten Ebenen ineinander. Eine Aufnahme vom hochgelegenen Balkon reißt den Blick vorbei an gegenüberliegenden Hausfassaden und einer mit antikischen Vasen besetzten Brüstung im Vordergrund hinein in eine Straßenschlucht und schließlich wieder hinauf über die Dächer in die Tiefe des Raumes und den offenen blauen Himmel. In einer weiteren Arbeit ist der Blick durch das dichte Skelett aus Eisen, Beton und Versorgungsgeräten von einer Hochhausbaustelle auf eine Stadtlandschaft und in den blauen Himmel derart verwirbelt, daß er gleichermaßen von rechts nach links, von oben nach unten und in jeweils umgekehrter Reihenfolge gelesen werden kann. So entsteht ein Bild, das an einen Zustand der Schwerelosigkeit erinnern mag, an eine Perspektive also, in der Oben und Unten nur noch Konventionen sind. Gelänge es für einen kurzen Augenblick sich mit einer im Wind wiegenden und durch einen Kirchenraum trudelnden Feder zu identifizieren, so erhielten wir wahrscheinlich einen ganz ähnlichen Eindruck wie den, der auf einer anderen Aufnahme zum Bild von Raum und Zeit geronnen ist. All diesen ganz und gar nicht auf Klarheit bedachten und über weite Strecken durch Unschärfen bestimmten, leicht über- oder unterbelichteten Aufnahmen, ist eine spezifische Atmosphäre eigentümlich. Diese ist, vergleichbar einem charakteristischen Duft, derart verdichtet und mit Informationen angereichert, daß es zumeist gelingt, Ort und Zeitpunkt der Aufnahme annähernd zu bestimmen. Dennoch bleibt alles wie bei einer Aroma verströmenden Quelle im Fluß. 
Kaum etwas wird in diesen Bildern in der Art fixiert, wie es die Künstler-Ingenieure des 15. und 16. Jahrhunderts mit ihren zentralperspektivischen Konstruktionen getan haben. Die Welt wird nicht den Koordinaten eines Rasters unterworfen, das es ermöglicht, die Relationen der einzelnen Gegenstände in ein genau definiertes Verhältnis zu bringen. Diese Fotografien führen weg von der Vorstellung eines einzigen festen Körpers im Raum. Liebschers Bilder sprechen vielmehr von den vielfältigen Phänomenen eines bewegten Seins. Wer das Leben ausschließlich wiegend, messend und zählend zu begreifen sucht, wer ein Experiment erst dann gelten läßt, wenn es jederzeit und überall nachvollziehbar bleibt, wird vielleicht Enttäuschung verspüren. Liebschers Fotografien sind nicht beliebig wiederholbar, weil in ihnen der Zufall assistiert und die herkömmliche Verteilung der Rollen in Objekt von Wahrnehmung und zugehörigem, stillstehendem Subjekt grundsätzlich in Frage gestellt werden. Die Grenzen zwischen beiden entgegengesetzten Seiten lösen sich auf, die Positionen wechseln ihre Bestimmung, so daß nun bewegt erscheint, was ehedem unbewegt war und umgekehrt.
Während der Maler den ganzen Körper, der Zeichner zumindest noch die Hand bewegen muß, um ein Bild herzustellen, wurde mit der Erfindung der Fotografie die Selbstbewegung überflüssig, ja, sie war in der Regel sogar ausgesprochen unerwünscht. Es galt – zumindest im entscheidenden Moment der Belichtung – den Apparat und sich selbst ruhig zu stellen. Verwackelte Aufnahmen wurden in diesem Genre nur selten akzeptiert. Liebscher bewegt nicht nur den am bewegten Körper gehaltenen Apparat, sondern gleichzeitig auch noch den Film. Bei offener Linse wird der lichtempfindliche Streifen Zelluloid mehr oder weniger gleichmäßig gespult. Dabei werden Körper- und Kamerabewegung parallel zur Bewegung des Films gerade soweit beschleunigt, daß die entstehenden Bilder vom Betrachter noch in einzelnen Partien gelesen werden können und nicht in ein vielleicht stimmungsvolles, aber unlesbares Flimmern übergehen. 
Liebschers Bilder veranschaulichen auf poetische Weise das Leben als ein rasendes, als einen Prozeß, dem der Betrachter nicht still und staunend gegenübersteht, sondern der ihn mitreißt. Hier wird Zeit als etwas dargestellt, das eigentlich gar nicht ist, wird ein Zustand geschildert, in dem es kein Halten, keinen Stillstand gibt. Aber auch ein flüchtiges, sich ständig verlierendes Begreifen von Welt hinterläßt Spuren. Auf sie bezieht sich Liebscher, wenn er versucht, etwas von dem Wechselspiel aus Stillstand und Raserei ins Bild zu setzen. Und so erzählen diese Fotografien von Bewegung ohne sich selbst zu bewegen. Mit ihnen wird Wahrnehmung als Wahrnehmung von Zeit veranschaulicht. Zwar wird der Spannungsbogen „vorher-jetzt-nachher“ nicht ganz geschlossen und somit einer Richtung enthoben, dennoch bleibt der Verlauf des oft stark gekrümmten Zeitpfeils in vielen Fällen durchaus ungewiß. Der Betrachter mag sich seinen eigenen Reim auf ein Vorher, Nachher und Jetzt machen. Vielleicht versteht er Bewegung als wechselvoll verlaufendes Spiel und nicht als Flucht aus einem Punkt heraus oder als Drängen hin auf ein Ziel. Während der Hase sich abhetzt, macht der Igel die Raserei nicht mit, sondern hängt genüßlich in der bewegten Zeit und ist stets am Anfang und Ziel zugleich.

Andreas Bee

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