Sandra Danicke: Der Manipulator

In seinen Foto-Arbeiten verschränkt Martin Liebscher Innen mit Außen, Zeit mit Raum und Realität mit Fiktion. Jetzt zeigt der Frankfurter neue UFO-Bilder und Panoramaaufnahmen in der Galerie Voges + Deisen.

Zeit ist ein Teufelsding, so dehnbar wie ein Gummiseil und flüchtig wie ein Dejávù-Erlebnis. Martin Liebscher bannt die Zeit und den Raum in fotografische Bilder, indem er Filme dreht. Das heißt, er dreht sie wirklich, kurbelt sie per Hand durchs Gehäuse einer präparierten Kleinbildkamera- bei offener Blende. Das Ergebnis ist ein vielfach verzerrtes Abbild der Realität, eine faszinierende Mixtur aus Kontrolle und Zufall. Denn nicht nur der Filmstreifen wird bewegt, auch die Kamera schwenkt Liebscher um die eigene Achse, während das Auto, in dem der Künstler sich befindet, konstant von A nach B fährt, die Menschen und Fahrzeuge außerhalb sich von C nach D bewegen. So entstehen meterlange Panoramaaufnahmen, in denen nicht nur Innen und Außen, sondern auch vier Bewegungsabläufe miteinander verschmelzen: Fotografien von Raum und Zeit, in denen Brückenpfeiler tanzen, Autobahnen schlingern und feste Koordinaten einfach nicht existieren.
Die bislang letzten dieser Aufnahmen, die derzeit in der Galerie Voges + Deisen zu sehen sind, hat der Frankfurter in Los Angeles gemacht, wo er aufgrund eines Arbeitsstipendiums des Wiener Museums für Angewandte Kunst von Oktober 1997 bis April ’98 gelebt har- „eine Stadt, so groß wie das Saarland. Ein Ort, der dich umhaut und haltlos macht&laqno;. Weil es dort Ein Zentrum gibt, und weil man dort selbst das Zigarettenholen mit dem Auto besorgt. Egal, in welche Himmelsrichtung du fährst, du kommst immer zur selben Supermarktkette.“ Also hat Liebscher sich erstmal ein Auto gekauft, ist mit seinem Galaxie 500 – einem richtigen Ami-Schlitten mit Faltdach und Ledersitzen – durch die Gegend gefahren, ist über die Freeways kutschiert, mit der Windschutzscheibe als Kinoleinwand. Der Film, der auf dieser fiktiven Privat-Leinwand ablief, war ein Roadmovie der besonderen Art, eine seltsame Mischung aus Realität und Fiktion. Ein Film, den man schon kennt, weil jede Ecke schon in irgendeinem Streifen vorkommt. Zum Beispiel in „Blade Runner“: „Ich dachte, die Locations wären ausgedacht.“ Sind sie nicht, genausowenig wie die Firestone Tankstelle in „Lost Highway“ oder Randys Donuts-Laden mit der gigantischen Fettgebäck-Attrappe aus „Mars Attacks“.
Auch diese Orte hat Martin Liebscher fotografiert, allerdings nicht mit seiner Panoramakamera, sondern mit Einwegapparaten. Erstaunlicherweise ist auf jeder dieser Aufnahmen ein verschachteltes UFO zu sehen, das dem dreiunddreißigjährigen Künstler auf seiner Tour wohl gefolgt sein muß und den Bildern den Titel „Unidentifed Fotographic Objects“ eingebracht hat. Nicht nur in Los Angeles wurde das Flugobjekt gesichtet. Auch auf Liebschers New-York Aufnahmen, solchen vom Grand Canyon oder der Wüste ist es präsent, und einen Besuch des „Baywatch“-Strandes haben sich die Außerirdischen augenscheinlich genausowenig entgehen lassen wie den Blick auf Elvis‘ Geburtshaus in Tupelo. Martin Liebscher hat das UFO aus den Bestandteilen ebenjener Einwegkameras gebaut, mit denen er es fotografiert hat, und sich bei der Simulation eines außerordentlichen Ereignisses offenbar nicht allzuviel Mühe gegeben. Häufig sieht man die Leine nebst Stange oder Finger, die das Teil vor die Linse hängen, wie das auch manchmal in billig produzierten Filmen vorkommt- und das, obwohl Liebscher, der ein Studium an der Frankfurter Städelschule bei Martin Kippenberger und Thomas Bayrle absolviert hat, ein Meister der Bildmanipulation ist.
Schon 1994, als die Methode noch nicht allzu populär war, eröffnete Liebscher mit seinem Künstler-Kollegen Marko Lehanka den virtuellen »Liebscher-Lehanka-Salon&laqno;, für den sich die beiden mittels digitaler Bildbearbeitung Frisuren anderer auf den Kopf transplantierten. Zwei Jahre später veröffentlichte der Frankfurter „Familienbilder“, die ihn vielfach geklont in den unterschiedlichsten Posen auf nur einem Abzug zeigten und schließlich im „längsten Gruppenfoto der Welt“ gipfelten, das ihm jüngst einen Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde bescherte. Im vergangenen Jahr eröffnete er die Gedenkstätte „Liebscherhaus“ in Speyer- ein ganz gewöhnliches Privathaus, in dem der Künstler seine eigene Retrospektive inklusive Jugend-Reliquien präsentierte. Die Bewohner des Hauses lebten für den Zeitraum der Ausstellung im Kunstverein.
Auch seine aktuellen Arbeiten handeln von der Verschränkung unterschiedlicher Realitätsebenen: vom Spiel mit der offensichtlichen Fälschung, dem Anschein der Authentizität, der sich selbst ad absurdum führt.

Sandra Danicke
In Journal Frankfurt, Juni 1998

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