Thomas Wolff ….und wenn ja wieviele?

VON THOMAS WOLFF 
Frankfurter Rundschau 10.06.2010

Eine furchterregende Vorstellung: Klone seiner selbst zu erzeugen, vieltausendmal, und mit ihnen die Welt zu bevölkern. Theater bis auf den letzten Platz zu füllen, Fabriken, Spielhallen, komplette Küstenabschnitte. 3500 digitale Abbilder seiner selbst in einem einzigen Foto-Panorama – das ist der bisherige Rekord des Künstlers Martin Liebscher. Teuflisch. Grauslig. Allein die Arbeit!

Liebscher jedoch, ein gemütlicher Mann in mittleren Jahren, lächelt darüber: „Es war die einfachste Lösung.“ Wie bitte? Mit drei Figuren auf einer Einladungskarte fing es an, damals, 1993, während des Studiums an der Frankfurter Städelschule.

Liebscher lotete die Möglichkeiten der digitalen Fotografie aus, hielt sich selbst in drei lässigen Posen fest und montierte die Figuren in die Ansicht eines Zimmers. Bei dem kleinen Spaß hätte es bleiben können. Doch Liebscher hatte den Spaß an der Performance entdeckt, an der Kunst, als alles Mögliche zu posieren. Ganz spontan, ohne große Regie. Dafür ein Model zu engagieren, wäre schlicht zu aufwendig. So blieb er der einzige Darsteller seiner eigenen Phantasien.
Dutzende solcher Montagen sind inzwischen entstanden, auf allen agiert allein der Künstler. Kriegt man da nicht doch irgendwann eine Macke? „Ich bin schon Sklave dieser Geister geworden, die ich mal gerufen habe“, sagt der Künstler, wirkt dabei sehr entspannt. Es sei ja alles „irgendwie auch lustig“ – so einen „Typ mit Bauchansatz und Halbglatze“ in dieser Massierung zu sehen.

Kataloge seiner Arbeiten: „A Man With Opportunities“, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2007; „Einer für alle“, Hatje/Cantz 2009, limitierte Auflage, Ostfildern 2009 (Deutscher Fotobuchpreis). Neue Arbeiten zeigt die Galerie Voges, Frankfurt, im September 2010. Website des Künstlers: www.m-liebscher.de
Natürlich: Anstrengend sind die Performances schon. Um den Zuschauerraum der Berliner Volksbühne komplett zu bevölkern, musste der Akteur im Sekundentakt von Stuhl zu Stuhl hüpfen, klettern, robben, während der Assistent den Auslöser drückte – das Äquivalent von „rund 700 Kniebeugen „, erinnert sich der Vorturner. In den großen Konzertsälen ist sein Programm noch fordernder.

In der Suntory Hall zu Tokio und in der Berliner Philharmonie tobte sich Liebscher bis in die letzten Winkel aus (unser Bild zeigt einen Ausschnitt) und verschmolz das Ganze am Computer zu einem einzigen, phantastischen Architekturgebilde. Liebscher spielt alle Instrumente, dirigiert sich selbst, startet eine La-Ola-Welle auf den Rängen, pöbelt und langweilt sich, kommt zu spät, klettert im Saal herum wie auf einem Abenteuerspielplatz. Auf anderen Bildern würgen sich die Liebschers, schießen auf einander, raufen und vögeln und sterben dahin.

Und damit fängt die Arbeit erst richtig an. Die Figuren muss Liebscher mittels Fotosoftware einzeln aus den Aufnahmen ausschneiden, sortieren und dann zu einem Gruppenbild arrangieren. Eine Frickelarbeit, bei der ihm inzwischen zwei Studenten helfen. Liebscher, der heute zwischen Frankfurt und Berlin pendelt, lehrt als Professor an der Offenbacher Hochschule für Gestaltung HfG und rekrutiert Hilfskräfte für die Fleißarbeit. Denn seine Projekte, man ahnt es, werden ja eher noch aufwendiger, die Panoramen größer, die Performances schweißtreibender.

Eben ist Liebscher von einer Italienreise zurückgekehrt. Zwei Jahre lang hat er auf die Genehmigung hingearbeitet, die Mailänder Scala als Schauplatz zu bekommen, auch den Markusplatz in Venedig hat er im Alleingang bespielt.
Und auch die Formate werden nicht kleiner – es liegt wohl in der Natur der Sache. Das Philharmonie-Bild misst 1,20 auf 4,55 Meter. 37 Meter lang wand sich das „längste Gruppenbild der Welt mit einer Person“ (Guinnessbuch-Eintrag) bei seiner Ausstellung 1995 durch ein Treppenhaus am Römerberg. „Eigentlich“, überlegt Liebscher, „könnte man sogar 150 Meter Rolle durchbelichten.“ Allein sein Trägermaterial, Aluminium und Plexiglas, setzt ihm technische Grenzen. Aber er arbeitet dran. Darauf kann man setzen.

Auch das Fotobuch „Einer für alle“, das unlängst mit dem Deutschen Fotobuchpreis ausgezeichnet wurde, ist mit über einem Meter Spannweite (aufgeschlagen) das größte seiner Art. Liebscher nennt es amüsiert „das Büchlein“. Man ahnt: Der Mann hat noch Größeres vor.

Thomas Wolff
Frankfurter Rundschau
10.06.2010 

Person und Werk
Martin Liebscher, geboren 1964 bei Speyer, studierte bei Martin Kippenberger und Thomas Bayrle an der Städelschule Frankfurt. Seit 1993 arbeitet er mit digitalen Foto-Panoramen, in denen er sich selbst vervielfacht. Früher Höhepunkt: Das „längste Gruppenfoto der Welt“ im Presseamt der Stadt, 37 Meter lang (1995).
Kataloge seiner Arbeiten: „A Man With Opportunities“, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2007; „Einer für alle“, Hatje/Cantz 2009, limitierte Auflage, Ostfildern 2009 (Deutscher Fotobuchpreis). Neue Arbeiten zeigt die Galerie Voges, Frankfurt, im September 2010. Website des Künstlers: www.m-liebscher.de

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