Barbara Auer: Eine Stadt ohne Namen

Bereits ein flüchtiger Blick auf die Fotografien von Rut Blees Luxemburg und Martin Liebscher weisen mehr Unterschiedliches als Gemeinsames auf, obwohl sich beide Künstler dem urbanen Raum – London und Tokio – als Schauplatz ihrer fotografischen Darstellung verschrieben haben. Zwei fotografische Positionen treten hier in einen Dialog, denen trotz offensichtlicher Differenz eine subjektiv geprägte Handschrift gemeinsam ist. Beide Fotografen sind nicht auf der Suche nach einem spezifisch britischen oder japanischen Ambiente. Vielmehr verweigern sie einen dokumentarischen oder auf Sehenswürdigkeiten gerichteten Blick und machen damit eine topografische Zuordnung der Gebäude, Straßen und Plätze nahezu unmöglich. Die jeweilige fotografische Aneignung der Städte verdichtet sich zur persönlichen Interpretation, die den Mythos Großstadt immer wieder neu beschwört. Konzentriert sich Rut Blees Luxemburgs Blick fast ausschließlich auf ihre Wahlheimat London, wo sie seit zehn Jahren lebt und arbeitet, so ist bei Martin Liebscher die Metropole Tokio nur eine unter vielen Großstädten – wie Frankfurt, Berlin, New York, Los Angeles, Hongkong – die er in den letzten fünf Jahren bereist und fotografiert hat.

Kein Stadtteil Londons ist Rut Blees Luxemburg so vertraut wie das Eastend, wo sie über Jahre hinweg den strukturellen Wandel des unattraktiven Viertels im Zentrum der Hauptstadt selbst miterlebt hat. Bot das Eastend einst billigen Wohn- und Arbeitsraum und war die Keimzelle der international Aufsehen erregenden Bewegung »Junge britische Kunst«, verdrängen dort jüngst begonnene Sanierungsmaßnahmen und Neubauten zunehmend die alten Bewohner.
Nachts, wenn für wenige Stunden das pulsierende Leben zum Stillstand gekommen scheint und die Großstadt in einen kurzen Schlaf fällt, begibt sich die Künstlerin auf ihre Streifzüge durch das Viertel. In diesen Stunden der Ruhe und menschenleerer Straßen zeigt sich aus unbekannter Warte eine fremdartige Sicht auf die britische Hauptstadt. Orte, die bei Tageslicht unspektakulär, ohne jegliche Ausstrahlung erscheinen, erhalten unter der Hand der Künstlerin ein neues Gesicht. Während Rut Blees Luxemburg einer Gesetzlichkeit des Mediums treu bleibt und im klassischen Sinne die Wirklichkeit unmanipuliert so abbildet, wie sie sie vorfindet, legt sich über das Unscheinbare der vergessenen Gegenden ein Schleier glühend leuchtender Farben, die im gesteigerten Kolorit das Geschehen der Wirklichkeit entrücken. Im Sog ihrer spannungsvollen, emotionalen Kraft taucht der Betrachter ein in eine ihm bekannte und doch unbekannte Welt.
Nachts, wenn für das menschliche Auge die Farbe zunehmend erlischt und alles in ein gleichmachendes Grau übergeht, macht sich die Künstlerin mit ihrer 5×4-Kamera ausgerüstet an die Arbeit. Das Motiv steht schon lange fest, die Vorstudien dazu sind mit einer Kleinbildkamera bereits gemacht, die Lichtverhältnisse vor Ort, die ihr allein zur Ausleuchtung dienen, genau erkundet. Jetzt gilt es nur noch die richtige Witterung abzuwarten, um das Bild auf lichtempfindliches Zelluloid zu fixieren. Extrem lange Belichtungszeiten führen zur charakteristischen Farbpalette der in Detail- und Tiefenschärfe brillanten nächtlichen Szenerien. Zwischen den Polen eines extrem hellen, fast weißlichen Lichts und dunkel gefärbter Zonen großflächiger Horizonte oder tiefschwarzer Schlagschatten changieren die Farben Gelb, Rot und Grün als strahlend oder matt schimmerndes Gold, leuchtendes Ocker oder glimmendes Orange; glühendes Rot tritt in Kontrast zu fahlem, grellem oder tiefdunklem Grün. Nur spärlich findet sich Blau: In »Cruise Control« schießt das Blaulicht eines Polizeiautos zum Laserstrahl geronnen – parallel zu einer orangeroten Lineatur – wie ein Pfeil durch eine Brücken- und Straßenlandschaft (Abb.S.7). Ein grell blauer Spot beleuchtet in »Orpheus, Nachtspaziergang« das Innere einer spaltbreit geöffneten, auf einer Straße installierten WC-Kabine. Ummantelt von einer bronzen schimmernden Architektur offenbart sich der Ort der Notdurft, im kalten türkisblauen Licht, als geheimnisvoller Blick in die Tiefen der »Unterwelt« (Abb.S.15).
Zwei Werkgruppen, »London – A Modern Project« und »Liebeslied«, sind in den vergangenen fünf Jahren entstanden. Die fotografische Vorgehensweise geht über das Sichtbarmachen einer bloßen Erscheinung hinaus und vermittelt in der Schönheit und Strahlkraft der Farben und dem gleichsam dahinter lauernden latent Unheimlichen der Szenerien ein physisches und psychisches Erleben des urbanen Raums. Im Vordergrund der Arbeit zu »London – a modern project« steht eine subtile Analyse einer allseits bekannten und das Bild vieler Städte prägenden monotonen Architektur, die schonungslos als das Erbe der Moderne vorgeführt wird. Waren einst die Avantgardisten des Bauhauses, die russischen Utopisten für ein humaneres Leben in den Städten angetreten, so wird die Architektur heute in ihrem einheitlichen Stil stereotyper Hochhäuser, anonymer Betonfassaden und trostloser Parkhäuser zur puren Zweckmäßigkeit degradiert. Der Name des Bildes »Caliban Towers«, so benannte die Londoner Verwaltung offiziell ein Hochhaus im Eastend, entstammt Shakespeares Drama »Der Sturm«. In Analogie zur tragischen Figur des Caliban, der im Anblick seines Spiegelbildes seine Hässlichkeit erkennt, begründen sich die Rolle der Künstlerin und ihr fotografisches Konzept. Mit ironischem Unterton – vielfach auch in den Bildtiteln angedeutet – reflektiert die Künstlerin die Ambivalenz einer schäbigen, heruntergekommenen Architektur, der sie dennoch im nächtlichen Glanz des Lichts Schönheit und Würde verleiht. Ihre Bilder umkreisen das Schöne und Hässliche und unterlaufen in der Doppelbödigkeit der Aussage die sublime Kritik, indem sie den vergessenen Orten ihre Reverenz erweist.
Der in der ersten Werkgruppe eingehaltene distanzierte Blick wird in dem jüngst abgeschlossenen Zyklus »Liebeslied« aufgegeben. Die Architektur als Ganzes tritt zurück. Die Künstlerin dringt nun mehr in die Stadt ein, fokussiert im ausschnitthaften Detail den Blick auf weniges: Auf einer mattgold schimmernden Fassade umspielt der wild verzweigte Schatten eines Baumes ein von gleißendem Licht durchflutetes Fenster (Abb. S.17); ein leuchtend roter, zum Betrachter hin geöffneter Stahlcontainer – sparsam ausgestattet mit einem gedeckten Tisch und Stuhl rückt kulissenhaft ins Zentrum des Geschehens (Abb. S.11). Die dramatisch inszenierten Bühnenbilder scheinen nur darauf zu warten, dass das Spiel jeden Augenblick beginnt – doch das findet allein in den Köpfen der Betrachter statt.


1952 fotografierte Otto Steinert – der Begründer der »subjektiven Fotografie« – nachts in Paris die Straßenlampen auf der Place de la Concorde zusammen mit dem Scheinwerferlicht vorbeifahrender Autos, indem er sich selbst während der Belichtungszeit mit der Kamera bewegte. Das fotografische Experiment – ein sog. Luminogramm – zeigt im rhythmischen Gleichklang weiße, wellenförmige Linienbündel auf schwarzem Grund. Wenn man nun heute, fast fünfzig Jahre später, die Arbeiten von Martin Liebseher betrachtet, ist man im Computerzeitalter und dessen grenzenlosen Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung geneigt, voreilig dessen eigenwillig verwischte und verzerrte Bilder unter diesem Vorzeichen zu subsumieren. Doch weit gefehlt. Das fotografische Verfahren Martin Liebschers ist dem Otto Steinerts sehr verwandt. Die schwungvolle, wellenförmige Lineatur zeichnet ebenfalls die Bewegung des Künstlers während der Belichtungszeit nach. Dass sich das ganze Bildgeschehen jedoch hier auf bis zu neun Meter lange Panoramen ausdehnt, erklärt sich durch ein von Liebscher entwickeltes zusätzliches technisches Detail. Die Kleinbildkamera wurde von ihm so umgebaut, dass er den Film während der Belichtungszeit weitertransportieren kann. Definiert sich der Bildraum bei Steinert, wie in der Fotografie üblich, über eine auf dem Film vorgegebene Bildeinheit, erstreckt sich hier das Geschehen über neun bis zwölf Abschnitte.
Wer Martin Liebscher einmal auf seinen fotografischen Reisen begleitet hat, ist überrascht von seiner unspektakulären Art des Fotografierens. Der ganze Vorgang spielt sich in Sekundenschnelle ab: die Kamera wird gezückt, ein kurzer Blick auf den Belichtungsmesser, die Blende eingestellt und dann der Apparat mit ausgestrecktem Arm im schwungvollen Auf und Ab über einen bestimmten Radius bewegt – Menschen in seiner Nähe werden dabei oft Teil des Bildes, wobei diese meist den fotografischen Vorgang als solchen überhaupt nicht registrieren.
meiste vom Zufall gelenkt. Er kann ein Bild zerstören oder aber gerade bildwürdig machen. Wenn Martin Liebscher seine Kamera als einen »Dinosaurier« bezeichnet, meint er damit die technisch äußerst primitive – also mit wenig »Gehirn« ausgestattete – Kamera. Das ausgewählte Motiv ist quasi nur ein Angebot des Künstlers an den Apparat, was dieser auf dem bewegten Rundflug tatsächlich aufzeichnet, darauf hat er keinen Einfluss. Jeglichen technischen Fetischismus ignorierend, liegt für Liebscher gerade im unkalkulierbaren und spielerischen Moment der Reiz der Methode. Dabei ist die Ausbeute sehr gering; nur ein verschwindend geringer Prozentsatz gelangt zum Vergrößern ins Labor.
Wie eingangs erwähnt reist Martin Liebscher mit kurzen Unterbrechungen um die Welt; im vergangenem Jahr hielt er sich u.a. für sechs Wochen in Tokio auf. Tokio ist mit über acht Millionen Einwohnern eine der größten Städte der Welt. Die Megametropole bildet das Zentrum eines Ballungsraums, der im Radius von fünfzig Kilometern im Ganzen 32 Millionen Einwohner umfasst. Hier kulminiert auf dicht gedrängtem Raum die Großstadt zum Giganten des 21. Jahrhunderts. Tokio verändert sich unablässig, nichts steht hier still, nirgendwo ist die Dynamik der Zeit, die in eiligen Schritten das Tempo der Stadt bestimmt, so präsent wie an diesem Ort.
Im Strudel der fiebrigen Hektik lässt Liebscher seine Kamera entlang der von Menschenströmen bevölkerten Straßen, U-Bahnstationen und Gebäudefassaden gleiten. Im steten Wechsel von Nah und Fern durchdringen sich die Bildebenen, zerfließen die einst klaren Konturen funktionaler Architektur und mutieren in z.T. extremen Schieflagen zu organisch gedrungenen Gehäusen. Im matt hellen Tageslicht oder vor dem nächtlichen Himmel bilden sie weiträumige Szenarien utopisch futuristischer Stadtlandschaften. Das Auge tut sich schwer, im dahinziehenden Strom von Form und Farbe Fixpunkte zu finden, die, kurz Gegenständliches preisgebend, sich abrupt wieder in abstrakt malerische Bildabschnitte verkehren. Im Chaos der verschachtelten Räume wölben sich die Gebäude und Menschen ausladend dem Betrachter entgegen, um gleich darauf in die Tiefen der Straßenschluchten gestoßen zu werden. Das ordnende Element eines zentralperspektivischen Raumes ist hier völlig abhanden gekommen, im hierarchielosen Nebeneinander reiht sich das Geschehen aneinander, ohne dabei eine eindeutige Leserichtung vorzugeben. Der Betrachter folgt den Kurven und Windungen des Bilderstroms und er erfährt, wie sich Zeit – normalerweise mit Messgeräten erfassbar und sichtbar gemacht – hier als räumliche Dehnung visualisiert. Angesichts der vier Millionen Menschen, die allein täglich die U-Bahnstation Shinjuku Station passieren, gerinnt das Bild »Station« zum flüchtigen Bruchstück von Wirklichkeit (Abb. S. X/XI). Aus der Bewegung eines niemais endenden Menschenstroms wird ein kurzes Zeitintervall von 20 bis 25 Sekunden auf neun Metern Länge extrahiert. Im monotonen Gleichklang der Bewegung scheinen die Passanten im schnellen heftigen Stakkato vertikaler, von Licht durchdrungener Linien mit der Bahnhofskulisse zu verschmelzen. Dagegen erfährt man in der szenischen Abfolge bei »Shinjuku Station« eine gewisse Dramatik, wenn die Personen am linken Bildrand, im Strudel der Zebrastreifen winzig klein, schrittweise größer werden, bis sie als Nahansicht die gesamte Bildhöhe einnehmen (Abb.S.VIII/IX). Stahl, Glas, Beton haben sich in Spiele des Lichts und der Linien aufgelöst. Zwischen horizontal oder vertikal fließenden Farb
und Lichtkompositionen erscheinen schemenhaft die Menschen im sanften Tageslicht oder nächtlichen Zauber der Leuchtreklame: hier in einem. vorbeifahrenden Zug die Silhouette einer Frau; für Sekunden trifft sich ein Blick, ein Lächeln? ein kleines Signal? – es ist die Poesie des Augenblicks, oder wie der-englische Essayist Malcolm Muggeridge in seiner Autobiografie schrieb: »There is nothing like a face in a sea of faces.«


Barbara Auer, 2000

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