Thomas Wolf: EINER FÜR ALLE

Frankfurter Rundschau, 7.Januar 1997 Seite 21

 

Exzeß und Ordnung: Martin Liebschers Künstler Rollenspiele auf dem „längsten Gruppenfoto der Welt“


Wie hätten Sie ihren Künstler denn gern? Als zerzaustes Genie? Als eleganten Salonlöwen? Als Bettler oder Edelmann? Hier ist einer für alle. Martin Liebscher, Jahrgang 1964, Städel-Absolvent.
Liebscher liebt es nämlich, Rollen jeglicher Art durchzukaspern. Am besten alle auf einmal. Möglich macht es die digitale Bildtechnik: in seinen fotografischen Selbstporträts montiert der Künstler seine kostümierten Abbilder reihenweise aneinander, nahtlos, endlos. Wie unheimliche LiebscherKlone tummeln sich die Bettler und die Edelmänner im Dutzend auf den überbreiten Panorama-Fotos. Jetzt hat Liebscher seine Obsession konsequent auf die Spitze getrieben: Hunderte von Liebschers und Aberliebschers drängeln sich auf dem längsten Gruppenfoto der Welt, das derzeit durch das fünfstöckige Treppenhaus des städtischen Presseamtes am Römerberg mäandert.
Ein hübsches, kleines Spektakel, mag der Besucher des Hauses denken Die Knallfarben des Ausstellungsplakats tun das ihre zur sensationsheischenden Anmutung der Schau. Und sind nicht auch ein paar nackte Liebscher-Klone irgendwo auf dem Bild gesichtet worden? mit sagenhaft vielen Geschlechtsorganen dran?
Diese Verkaufsmasche ist freilich schon Teil der Künstler-Strategie. Nicht zufällig arbeitet Liebscher gern mit Marko Lehanka zusammen, der sich gelegentlich mit fiktiven Firmennamen („Modelagentur Lehanka“, Reederei Liebscher-Lehanka&laqno;) nach außen verkauft. Die (Re-) Präsentationssucht junger Kunstschaffender und der kommerzielle Druck, der auf ihnen lastet, findet hier ein passendes Ventil – und ein spöttisches Abbild.
Liebschers Rekordfoto verarbeitet so eine ganze Reihe von Tendenzen junger Kunst, wenngleich mit zahmer Selbstironie, Egozentrismus, Selbstvergessenheit, Rückzug aus dem öffentlichen politischen Leben: Von Thomas Ruffs aufgeblasenenPorträts bis zu Wolfgang Tillmans aufreizend lässigen Bildern seiner aufreizend lässigen Generation spannt sich der Bilderbogen der neuen Blasiertheit. Wer sich in den letzten Jahren auf Überblicksschauen junger Kunst umsah, der blickte häufig in stets dieselben, gekonnt gelangweilten Gesichter sei es in der Malerei, in der Fotografie oder Videokunst.
Sowas kann Liebscher allemal. Denn besonders gern spielt er auf seinen Bildern den Gelangweilten. Hundertfach reproduziert, wandelt sich dieser Eindruck allerdings: Hunderte von trüben Tassen sind nun wirklich nichts Besonderes mehr, und so wirkt Liebscher wie ein lakonischer Kommentator seiner eigenen Lässigkeit.
Zu solch exzessiver Selbstbeschäftigung paßt es denn auch, daß Liebschers vornehmstes Kunstwerkzeug der Computer ist. Mithin das Medium autistisch anmutender Rituale. Ego und Computer – ein schönes Paar.
Das wäre soweit ein kluges, hintergründiges Kunststück über Kunst. Und damit eine recht verkopfte Angelegenheit für Auskenner. Doch Liebschers Arbeit bleibt nicht im Konzeptuellen stecken. Auch auf t ästhetischer Ebene ist sein Rekordfoto höchst ergiebig.
Staunen laßt nicht nur die Reproduktionsrate der Künstler-Klone, sondern auch die damit einhergehende Verwandlung des Bildraums. Die Hintergründe wechseln nämlich beinahe so häufig wie Liebschers Charaktere: Freßgass‘, Zeil und B-Ebene, Künstleratelier,: Wohnung und Schlafgemach-alles perfekt aneinandergefügt. Ständig schlagen her Innen und Außenräume ineinander um, bieten neue Perspektiven für Rollenspiele. M C. Escher hätte seine helle Freude an diesen absurden, zugleich äußerst naturalistischen Raumgebilden. So ist Liebschers Rekordfoto am Ende doch ziemlich spektakulär-auf sehr feinsinnige Weise.

 

 

 

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