Nicht ohne Neid registriert man bisweilen die Arbeit der Landvermesser, die durch optische Geräte schauen, Meßlatten anpeilen, distanzüberbrückende Zeichen geben, an unsichtbaren Konstruktionen feilen. Als vergleichbare Form privilegierten Zugriffs erscheint Martin Liebschers Panoramafotografie. Auch wenn dabei das Bild eines Streuners auftaucht, der mit dem Stock am Zaun entlangklappert oder im Laufen eine Spraydose entleert. Der Film, in dem sich jeder Großstädter befindet, muß angehalten oder beschleunigt werden, eine Spur ist rauszuschneiden aus dem Allover von Architektur, Mensch, Verkehr, Signal. Bewegung und Zeitverlauf, das sind die Bestimmungen der Aktionsfotografie, die Martin Liebscher mit einer umgebauten Spiegelreflexkamera praktiziert: Er bewegt den Film mit der Hand, in einer Zeitspanne von 10 bis 20 Sekunden, vollzieht dabei parallele oder vom Filmverlauf abweichende Schwenks mit der Kamera. Diese Anwendung des kontrollierten Zufalls kennt man von bestimmten Maltechniken, beispielsweise den Schottbildern. Auf Wiedererkennbarkeit der Motive allerdings legt Martin Liebscher wert: sie steigert den Verfremdungseffekt der meterlangen Papierabzüge. Der Künstler betont, daß er die von ihm modifizierte Kamera als Bildgenerator versteht. Es geht um nie gesehene Bilder, zugleich aber um die Vorstellungen von Umzingelung und Totalität, die den Betrachter ergreifen. Was die fotografische Aktion als Bewegungsfigur begleitete, teilt sich als Bildwerdung mit. Während die als Endlosschlaufen aufzufassenden Fotografien von Martin Liebscher eine bestimmte Form der Überwältigung signalisieren, wirken sie zugleich als Aktivposten, als Formgebung und Bemächtigung im Fluß des Geschehens.
Rudolf Schmitz
In: The Lure of the Object
12. März – 3. April 1993
Goethe-Institut, London