Die Lichtbildnerei wurde bald nach ihrer Entdeckung als Konkurrentin der Kunst gefürchtet und gefeiert. Ihr traute man zu, die traditionsreiche Malerei endgültig zu überwinden. Die meisten Photographen aber haben sich um diese Utopie gar nicht gekümmert. Sie beschritten ihre eigenen Wege und haben versucht, durch die Benutzung ihres Mediums etwas vorher nicht Gesehenes festzuhalten. Damit verfolgten sie dasselbe Ziel wie alle anderen Künstler. Um Bewegung darzustellen oder zu imaginieren bedurfte es nicht unbedingt der Photographie. Doch erst die Photographie ermöglichte es, in der Wirklichkeit stattfindende Bewegung in einem Ausschnitt, in einem Bild festzuhalten. Heute haben wir uns daran gewöhnt, daß Kunst mit Photographie machbar ist und obwohl es manchmal so erscheinen mag, als ob auch dieses Terrain auf dem großen Kontinent der Kunst vollständig ausgekundschaftet, vermessen und kartographiert sei, gibt es doch immer wieder Neues zu entdecken. Martin Liebscher zeigt uns in einer Gruppe seiner Bildbänder Straßen, Autos, Menschen und Hauswände, in der Art eines Halb Panoramas hält er einen Bewegungsablauf unterschiedlich schneller Objekte und Subjekte fest. Wie kommen diese Ausschnitte aus dem Leben in einer Stadt zustande? Für die Aufnahme wird die Kamera auf eine Mauer gelegt, und während der Belichtungsdauer wird der Film bewegt. Durch einen technischen Eingriff ist es möglich, daß der Film, vorgesehen für 36 Aufnahmen, während des Kamera-Schwenks möglichst gleichmäßig an der Blendenöffnung vorbei gezogen wird. Auf diese Weise macht Martin Liebscher den Film zu einem einzigen Bild. Aus dieser bildlichen Fixierung des gedehnten Augenblicks, der die gesamte Lange des Films einnimmt, wählt der Künstler einen Ausschnitt aus, der dann vergrößert und auf einen Bildträger aus Leichtmetall aufgebracht wird Auf den Bildern erscheinen die in der Bewegungsrichtung der Kamera fahrenden Automobile in einer Form, die von unserer „normalen“ Wahrnehmung abweicht. Die gestauchte oder gelängte Erscheinung der Fahrzeuge und ihre veränderten Proportionen erinnern an Spielzeugautos. Die Bewegungen der Fußgänger werden teilweise in Phasen zerlegt. Hauswände der gegenüberliegenden Straßenseite und auch dort stehende Menschen werden zu einem flachen, kulissenartigen Band verwischt, Fassadendetails oder menschliche Gestalten sind verschwunden. An ihr Vorhandensein erinnern schließlich nur noch wechselnde gewischte Färbungen. Aus einer kaum zählbaren Menge von gleichzeitigen Bewegungen, die das Leben in einer Stadt notwendigerweise hervorbringt, wählt Martin Liebscher eine bestimmte Situation aus. Auf die endgültige Gestaltung des Bildes aber wirkt der Zufall durch die fremden Bewegungen ebenso ein wie durch die Bewegungen von Kamera und Künstler. Das fertige Bild erzählt uns somit auch etwas von seiner eigenen Entstehung. Als weiteres Ergebnis der künstlerischen Vorgehensweise Martin Liebschers ist eine große Anschaulichkeit und hochgradige Authentie festzustellen, so daß man sich in dem lauten Treiben anwesend fühlt und den Straßenlärm zu vernehmen meint. ln diesen Bildern ist das unablässige Geschiebe des ,stop and go“ einer Autoschlange eingefangen, aber ebenso fühlt man sich auch an das Flitzen von Rennwagen erinnert. Solche Stadt-Szenarien und deren hektische Dynamik sind heute auf der ganzen Welt anzutreffen wie es uns die Einzelheiten der verschiedenen Bilder verraten Der unmittelbare und gleichwohl formende Zugriff auf Bewegung im Raum, auf die sich bewegenden Gegenstände und Körper, ist in diesen Bildern nachhaltig spürbar. Der Versuch. die sich in der Zeit entwickelnden Veränderungen der gesehenen Objekte und der beobachteten Subjekte in einem Bild festzuhalten, ist deshalb als gelungen anzusehen, weil Martin Liebscher keine Angst vor den Wirkungen des Zufalls hat. Indem er das Ungeregelte und Unvorhersehbare des Zufalls in seinen Werken sozusagen zu Wort kommen laßt schafft er die Möglichkeit daß der Betrachter in seinen Bildern den Anfang einer Geschichte erkennen kann. ln einer anderen Reihe von Bildern hat der Künstler die Wiedergabe des Beobachteten durch de eigene Aktion noch stärker beeinflußt. Bei der Herstellung dieser Arbeiten benutzte sich der Künstler sozusagen selbst als bewegtes Stativ. Er dreht seinen Körper um 360 Grad, und während dieser Eigendrehung transportiert er in der Kamera den gesamten Film mittels der kleinen Kurbel. Hier entstehen echte Panoramen, die uns in der Endform aber keine Naturidylle, Seeschlacht oder biblische Geschichte zeigen, sondern Bilder von dynamisierten und verformten Architekturen. Wir erkennen trotz der Verzerrungen Dehnungen und Stauchungen, daß es sich bei den abgelichteten Architekturzusammenhängen um existierende Gebäude, Straßen und Plätze handelt. Wie nehmen wir Bewegung wahr? Ist sie überhaupt in Teile zerlegbar? Wie sieht der Übergang zwischen Stillstand und Bewegung aus? Wann beginnt der Stillstand, wann endet er? Um der Bewegung und ihrer Entwicklung in den Raum hinein auf der Spur zu bleiben, hat Martin Liebscher seine Forschung konsequent weiter getrieben Bei der Anfertigung der erwähnten Panoramen drehte vor sich, die Kamera relativ eng am Körper haltend und gleichzeitig den Film spulend, um seine eigene senkrechte Körperachse. Das war ihm immer noch zu statisch, zu sehr an einen Standort gebunden Also fertigte er ein Panorama an, diesmal allerdings in einem fahrenden Auto. Viel näher kann man mit einzelnen Bildern an das Flüchtige der Zeit und damit auch an das Geheimnis der Bewegung wohl kaum herankommen. Vielleicht mit einer Zeitmaschine. Und weg.
Christmut Präger
Heidelberg 1995
Katalog zur Ausstellung WRMM
Arbeitsplatz-Galerie für Zeitgenössische Kunst