Andeas Bee: Wann ist hier und wo ist heute?

in: Galaxie 500, Kunstverein Speyer, 2005

Martin Liebscher fährt Porsche. Oder seinen Ford Galaxie 500. Baujahr 69. Manchmal auch einen Motorroller. Hin und wieder Rad. Wer ihn auf eine seiner Fahrten begleitet, fühlt sich wohl und sicher. Er hat einen Bootsführerschein und surft, während ich dies hier schreibe, gerade vor Teneriffa. Auch beim Card-Rennen erweist sich Liebscher als Vollblutfahrer mit Benzin im Blut, und selbst noch beim Formel-1-Racing am Bildschirm, in der Spielhalle, hat er meist die Nase vorn. Kurz: Man kann sich kaum einen besseren Piloten hinter einem Lenkrad vorstellen, egal, welches Fahrzeug es zu steuern gilt. Ganz offensichtlich hat Liebscher eine ausgeprägte Affinität zu allem, was mit Bewegung, Geschwindigkeit und Beschleunigung verbunden ist. Und das meiste, was er als Künstler macht, wäre gar nicht vorstellbar ohne dieses weitgefächerte Interesse für jene Beobachtungen und Empfindungen, die sich einstellen, wenn wir uns anders als zu Fuß fortbewegen. Sind die oft meterlangen Panoramabilder nicht Momentaufnahmen der verrinnenden Zeit? Wofür stehen die aus gebrauchten Einwegkameras gebauten Raumschiffe, wenn nicht für den Traum vom Grenzen sprengenden Worb-Antrieb? Und drücken nicht auch die Familienbilder die Sehnsucht aus, das Leben zu doppeln und gleichzeitig überall zu sein? Aber der Reihe nach, ganz langsam, so einfach ist die Sache vielleicht dann doch nicht.

Als Künstler taucht man oft tief in eine scheinbar verkehrte Welt, die parallel zu der anderen existiert. In dieser wird alles zum Symbol, hier ist eine Zigarre plötzlich keine Zigarre und eine Zündkerze keine Zündkerze mehr. Auch ein Auto ist immer noch etwas anderes als ein Transportmittel. Oftmals stellt seine mythische Kraft jene seiner Funktionalität bei weitem in den Schatten. Und manchmal mutiert das Mittel der Fortbewegung gänzlich zum Objekt der Begierde. D´Annunzio und Picabia konnten ein Lied davon singen. Für beide gehörten Autos zu den großen Stimulanzien des Lebens. Ganz in diesem Sinne sind auch Martin Liebschers Vehikel nicht als profane Transport- oder Fortbewegungsmittel zu verstehen, sondern sie sind vielmehr „Schiffe“ oder „Kreuzer“, mit denen sich im Fluss von Zeit und Raum navigieren lässt, sind eher fliegende Teppiche und Zeitmaschinen, die uns helfen, das Leben zu dehnen und zu verdichten. So unterschiedlich ihre technischen und formalen Eigenarten im Einzelnen auch sein mögen, man gewinnt den Eindruck, als gehörten sie alle einer bizarren, aber höchst agilen Flotte von Raumgleitern an, mit denen wir uns auf Weltflucht begeben und uns frei und notfalls mit Fluchtgeschwindigkeit in einem sich ständig ausdehnenden All bewegen können. Wozu sie im Alltag auch immer sonst noch dienen mögen, nicht zuletzt sind Liebschers Vehikel Glücksmaschinen, mit denen der Körper verschmelzen kann, sind erotisch aufgeladene Katalysatoren, die die Reibung zwischen Wirklichkeit und Phantasie erhöhen, sind Verstärker einer ohnehin schon selbstbewussten Vorstellung des Ichs, Vibratoren gleich, die die Ausschüttung von Endorphinen provozieren und für Spaß, ja, manchmal sogar für Glück und Euphorie sorgen können.

Glück meint hier: die Dynamik des Lebens spüren, der Hoffnung nachhängen, dass die eigene Kraft unendlich ist, die Beweglichkeit niemals nachlässt und dass prinzipiell die Chance besteht, jedes Ziel zu erreichen. Glück meint in diesem Falle, sich der Irrationalität von Be- und Entschleunigung hinzugeben und die Selbstbewegung als Beweggrund zu akzeptieren. Von Glück kann man vielleicht auch dann noch sprechen, wenn es gelingt, der Sehnsucht nach bewegter Dauer Ausdruck zu verleihen und schließlich auf immer und ewig einem betörenden Sonnenuntergang hinterherzufahren. Denn das wäre beispielsweise einer jener Filme, die man wieder und wieder durch die Frontscheibe anschauen möchte, eines jener Roadmovies, in denen die Hoffnung auf Erfüllung aller Sehnsüchte der Antrieb des Reisens ist. Einen Rückspiegel braucht da wahrlich niemand mehr.

Ulf Poschardt vergleicht in seinem schönen Essay über Sportwagen den Fahrer mit dem Schöpfer schlechthin: „Die Verknüpfung von Vitalität und Bewegung führt seit Aristoteles zu kinesiologischen Gottesbeweisen, in denen der Schöpfer als der erste Beweger nicht nur Leben schafft, sondern ewiges Leben garantieren kann, weil er selbst nur als Ziel bewegt und damit unbewegt bleiben kann. Der Mensch im Auto ähnelt dem unbewegten Beweger, steif und fest gegurtet in seinem Sitz rührt er lediglich, als Hinweis auf seine Diesseitigkeit, den rechten Fuß, um die tonnenschwere Last bis auf 300 Stundenkilometer zu beschleunigen.“( Über Sportwagen, Berlin 2002, S. 24)

Panoramabilder
Die in diesem Katalog versammelten Panoramaaufnahmen entstanden während der Fahrt mit der offenen Galaxie. Liebscher bewegt nicht nur sich selbst, indem er den Wagen bewegt, sondern auch den Apparat und gleichzeitig noch den Film. Bei offener Linse wird der licht­empfindliche Streifen Zelluloid mehr oder weniger gleichmäßig gespult, die Kamera geschwenkt, während die Galaxie mit dem zwischen den Oberschenkeln eingeklemmten Lenkrad auf der Strecke gehalten wird. Körper- und Kamerabewegung sind dabei, parallel zur Bewegung des Films, gerade soweit zu beschleunigen, dass die entstehenden Bilder vom Betrachter noch in einzelnen Partien gelesen werden können, und nicht nur ein vollkommen unbestimmbares Rauschen wiedergeben. Was schließlich genau bei diesen Verwirbelungsunternehmen herauskommt, lässt sich kaum kalkulieren. Der Zufall ist stets ein wichtiger Reisegefährte. Idealerweise entstehen aber Aufnahmen, die neben wiedererkennbaren Wirklichkeitsfragmenten eine vollends ins Trudeln gerate Welt zeigen. Auf solchen Bildern sucht der Blick des Betrachters meist vergeblich nach Halt, fährt von links nach rechts, von rechts nach links, auf und ab, durch helle und dunkle Zonen, durch irritierend verdrehte Vorder- und Hintergründe, mal schneller und mal langsamer fortschreitend, wie auf einer optischen Achterbahn, die sich durch Zeit und Raum schlängelt. Das Verschwinden des einen festen Punktes, auf den sich alle Linien beziehen und aus dem heraus sich das Bild auf konventionelle Weise entschlüsseln ließe, wird dabei nicht als Verlust empfunden. Ganz im Gegenteil, es erscheint viel zeitgemäßer, wenn Liebscher auf beinahe musikalisch anmutende Weise das Leben als ein rasendes veranschaulicht, als einen Prozess, dem der Betrachter nicht still und staunend gegenübertreten kann, sondern der ihn mitreißt oder herumschleudert. Mit den Panoramafotografien wird Wahrnehmung als Wahrnehmung von Zeit veranschaulicht. Hier wird Zeit als etwas dargestellt, das eigentlich gar nicht ist, wird ein Prozess geschildert, in dem es kein Halten, keinen Stillstand gibt. Doch auch die flüchtigste Teilnahme an diesem sich unaufhaltsam weiter dynamisierenden Leben hinterlässt Spuren. Auf diese bezieht sich Liebscher, wenn er versucht, das Wechselspiel aus Stillstand und Bewegung ins Bild zu setzen. Der Betrachter mag sich seinen eigenen Reim darauf machen. Vielleicht versteht er Bewegung als wechselvoll verlaufendes Spiel und nicht als Flucht aus einem Punkt heraus oder als Drängen hin auf ein Ziel. Vielleicht muss man sich aber auch, wie Arno Schmidt es vorgeschlagen hat, die Zeit als eine Fläche veranschaulichen, auf der immer Alles „gleichzeitig“ vorhanden ist.

Unidentified Fotografic Objects

Was ist wahr? Was eine Illusion? Ist sieben viel? Gibt es einen Mond, wenn keiner hinsieht? In welchem Film befinden wir uns gerade? Oder ist das hier die Wirklichkeit? Spielt es heute noch eine Rolle, ob sich die Ereignisse um den Ufo-Absturz bei Rockwell beweisen lassen? Kann unsere Erinnerung überhaupt scharf zwischen den Bildern dieser Welt und den Ereignissen, die diese Bilder ausgelöst haben, trennen? Ist es nicht viel eindringlicher, die schöne Firestone-Tankstelle in Los Angeles zunächst in David Lynchs Film „Lost Highway“ gesehen und dann erst in der Wirklichkeit wieder gefunden zu haben? Wäre uns der Riesendonut über einem Kiosk überhaupt aufgefallen, wenn er nicht prominent im Film Mars Attacks zu sehen gewesen wäre?

Liebscher hat gebrauchte Einwegkameras seziert und aus ihnen Modelle von Raumschiffen gebaut, ähnlich denen, die wir aus einschlägigen Science-Fiction-Movies zu kennen meinen. Mit diesen an Schnur und Stock gehängten Ufos überfliegt er alles, was ihm interessant erscheint und liefert sich selbst so einen Vorwand, bekannte und unbekannte Schauplätze zu besuchen und diese Besuche zu fotografieren. Für den Betrachter der fotografischen Dokumente entsteht der Eindruck, als bräuchten die Irdischen die Außerirdischen als Signifikanten ihrer Erdverbundenheit und umgekehrt. Immer neue Aporien erzeugend, bleibt die Verschränkung der Selbstbilder und Phantasmen unauflösbar. Staffagen aus Filmen wie „Men in Black“ oder „Blade Runner“ finden sich in diesen Aufnahmen wieder, aber auch so wunderbare Landschaften wie das Death Valley, ein typisch amerikanischer Highway, unendlich lang und gerade, oder die Hochhausschluchten New Yorks, die Leuchtfassaden von Las Vegas und der Strand von Los Angeles. Und fast immer ist neben dem ins Bild ragenden Gefährt einer fremden Spezies auch sein Äquivalent, der goldfarbene Straßenkreuzer aus Amerika. Womit wir wieder beim Thema wären.

Familienbilder

Die alten philosophischen Fragen: „Wer bin ich?“, „Woher komme ich?“, „Wohin gehe ich?“ beantwortet heute in der Regel ein Navigationssystem. Ungeklärt bleibt allerdings das Problem des multiplen Seins. „Wie viele bin ich?“ und „Wie viele darf ich sein?“ sind für manche von uns ernst zu nehmende Fragen geworden, mit denen sich eine Auseinadersetzung kaum noch vermeiden lässt. Ja, manchmal will es so scheinen, als stände die Vorstellung vom unteilbaren Individuum zur Dispositio. Der italienische Kapuzinermönch Padre Pio wurde vor wenigen Jahren vom Papst heilig gesprochen, weil der Vatikan nicht länger seine außergewöhnlichen Fähigkeiten ignorieren konnte. Unter anderem erzählte man sich über Pio, dass er sich häufig und problemlos an mehreren Orten gleichzeitig aufhielt. Von Martin Liebscher weiß der Heilige Stuhl wahrscheinlich nichts. Auch wenn er sich ganz offensichtlich selbst vermehren und oft viele hundert Mal an einem Ort versammeln kann. Und oft mit dabei: die Galaxie 500. Nur einmal scheint etwas schief gelaufen zu sein. Eine Fotografie zeigt, dass auch der Wagen die außergewöhnliche Gabe der Selbstvermehrung zu besitzen scheint. In der Abenddämmerung verfolgt eine Herde fahrerloser, automobiler Klone den wie um sein Leben rennenden Künstler (*). Verkehrte Welt. Doch so ist es mit der Liebe. Die Verhältnisse schwanken wie die Pegelstände bei kommunizierenden Säulen, auf die störende Effekte einwirken. Am Ende aber klingen die irritierenden Schwingungen ab und alles kommt wieder ins Lot. Mensch und Auto gehören einfach zusammen. Auch wenn es hin und wieder mal knirscht, eine Trennung steht nicht zur Debatte. Es lebe die Tankstelle.

Andreas Bee

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