Nehmen wir eine simple mathematische Aufgabe: 1+1=2; etwas schwieriger: 1+1+1=3, oder kaum lösbar: 1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1=20, wenn ich mich nicht verzählt habe. Was die Mathematik hier leistet, scheint so einfach wie entscheidend: sie addiert die einzelnen Zahlen zu einer Summe. Die Summe besteht aber aus Zahlen, die in der Rechenaufgabe selbst nicht vorkommen: Obwohl wir nur “1en” addiert haben, tauchen in den Summen plötzlich eine 2 oder eine 3 oder gar eine 2 und eine 0 gemeinsam auf. In diesem Sinne markiert die Summe eine Verwandlung, sie gibt zu erkennen, dass die Addition der immer gleichen 1 diese zu etwas anderem hat werden lassen. Jede Veränderung in der Rechnung würde die Summe und damit das Ergebnis mitverändern. Soweit so klar. Vergleichen wir damit die Idee oder besser: die Ideologie, die hinter dem Begriff des Individuums steckt. Jeder Mensch=ein Individuum, d.h. eine unteilbare Größe; sagen wir eine 1. Diese 1 bekommt für seine gesellschaftliche Erfassbarkeit 1 Vornamen, 1 Familiennamen, 1 Geburtstag, 1 Passbild und 1 Geschlecht, neuerlich auch noch 1 Fingerabdruck und 1 DNS-Struktur. Ganz gleich, was dieses Individuum tun wird, letztlich wird es seiner singulären 1 zugeordnet — an seiner DNS-Struktur werden wir es erkennen. Nun stellen wir uns vor, dieses 1 Individuum hat auch noch 1 Beruf, 1 Familie, 1 Hobby, 1 Wunsch und 1 kleines Problem: also in Summe 1 mehr oder weniger erfolgreiches, normales und glückliches Individuum. Selbst das Gesetz und die Rechtsprechung orientieren sich an dieser 1, am Individuum. Nehmen wir nun an, dieses normal-glückliche und durchschnittlich erfolgreiche Individuum wird in seinem 1 Beruf so gefordert, dass es in seiner 1 Familie oder Beziehung überreagiert oder lahmt. Oder nehmen wir umgekehrt an, dieses Individuum wird in seiner Beziehung so gefordert, dass es die erwartete Totalität seines Einsatzes für diesen 1 Beruf nicht aufbringen kann und nur teilweise bei der Sache ist, dann folgen Sanktionen rechtlicher, privater oder sozialer Natur. Bleiben wir bei einer Mathematik des Individuums: Die Vorstellung der unteilbaren 1 geht davon aus, dass dieses Individuum, das 1 Beruf und 1 Beziehung und 1 Geschlecht und 1 Namen und 1 Problem hat, in Summe immer noch 1 Individuum ergibt. Also 1+1+1+1+1=1. Die Summe bleibt immer ident, 1 Individuum, das verurteilt, begehrt, geliebt, belohnt oder verlassen wird. Mit der Ideologie des Individuums und Individuellen wird eine Erwartung assoziiert, die von diesem verlangt, immer spezifischere und unverwechselbare Leistungen zu erbringen und diese Differenzen zu addieren, ohne die idente Summe von 1 am Ende zu gefährden. Wer es nicht schafft, diese 1, diese Totalität des unteilbaren Individuums herzustellen, hat 1 Problem, das sich häufig noch mit Sport, esoterischen Praktiken oder ein paar psychotherapeutischen Sitzungen korrigieren lässt. Wem das nicht hilft, der verschreibt sich der Ganzheitsmedizin, der letzten Bastion des Individuums und seiner 1, oder einer Arbeit von Martin Liebscher. Liebscher rechnet anders, mathematischer. Nach der Liebscherschen Formel bedeutet 1+1=2 Liebscher, oder: 20+1=21 Liebscher. Mit anderen Worten: Die Summe der verschiedenen Anforderungen an das Individuum bleibt in seiner Rechnung wahrnehmbar. In dieser Hinsicht ist der additive Prozess in seiner Arbeit nicht nur Ausdruck narzisstischer Selbstbespiegelung (eine humorige Reminiszenz einer Wahrnehmung des Künstlers als letztes Paradeindividuum), sondern auch ein Hinweis auf eine Identitätspolitik, die sich zur Fragmentierung und Partialisierung bekennt. Liebscher ist das letzte bürgerliche Individuum, das an seinem Namen und Abbild festhält, und das erste, das nicht mehr sagen kann, von wem die Rede ist, wenn von ihm gesprochen wird. Gewissermaßen ein Kind der Mengenlehre, unberechenbar. Im selben Maße wie am Individuum zweifelt Liebscher an der Logik, dass ein Ding nicht an zwei Orten gleichzeitig sein kann. Das Mobiltelefon ist eine jener Apparaturen, die diese Unmöglichkeit oder das Leiden an dieser Unmöglichkeit zumindest halbiert. Dieses Leiden an der mithin halbierten Unmöglichkeit basiert auf dem Problem, das Sukzessive nicht in Simultaneität verwandeln zu können. Mathematisch werden das sukzessive 1+1+1+1+1 und so weiter in eine Summe übersetzt, die nun die Gleichzeitigkeit der addierten Größen ausdrückt. Damit 1+1+1=3 sein kann, müssen die addierten 1en gleichzeitig in der 3 enthalten sein; würde eine 1 nur etwas zu spät kommen, dann wäre die Summe eben nur 2 oder je nach Verspätung der 1 eine 2 cum tempore, d.h. 2 komma… Die Kunst, die seit Wittgensteins Traktat ein gespaltenes Verhältnis zur Logik unterhält, machts möglich. Das summarische Bild Liebschers ist dann zwar kein logisches und wahres Abbild der Realität, verwandelt es doch das Sukzessive in Simultanes, dafür aber ein Abbild einer realistischen Befindlichkeit. Was damit als paradoxes und utopisches Bild erscheint, hat sein Reales in der Alltagswirklichkeit, in einem Begehren, das sich an der Logik reibt. Nehmen wir ein weiteres Beispiel: Stellen wir uns den Besuch 1 Bar vor, die bei Liebscher “Mysliwska” heissen könnte: “Wir” Individuen sitzen vor 1 Glas, d.h. wir sitzen vor 1 Glas nach mehreren Gläsern, bilden mental quasi die Summe von mehreren Gläsern, und stellen uns derart vermehrt einen ganz anderen Raum vor — das traute Heim, den Urlaubsort usf., also eine Summe von individuellen Räumen — während wir simultan die uns umgebende Lokalität mit offenen Augen beobachten. Der Nachbar neben uns erzählt von seinen Erlebnissen, während wir gleichzeitig am Gespräch der beiden nächsten Individuen Interesse gefunden haben, ja uns vorstellen können, auch an diesem Disput teilhaben zu können. Noch gespaltener wird diese Vorstellung, wenn “wir” uns überlegen sollten, welche Rollen wir in diesem Ambiente spielen könnten. Den Schweigsamen, den Träumer, den Coolen, den Schwätzer, den Looser, den Star oder alle Versionen zugleich — eine Frage der Tagesverfassung, und eine Frage der Logik, d.h. des Logischen und des Vorstellbaren. Was vorstellbar erscheint, wird bei Liebscher sichtbar: Eine nicht krankhaft sondern rechnerisch multiple Persönlichkeit, als Summe einer Mathematik des unberechenbaren Individuums. Nur zu konsequent impliziert dieser Perspektivenwechsel auch eine Mehransichtigkeit des Raumes. Liebscher denkt auch hier wieder mathematisch, und verwandelt die verschiedenen und sukzessiven Perspektiven in eine Summe simultaner Wahrnehmbarkeit des Verschobenen: die Einbildung in eine Abbildung. Was nach Wittgenstein der Kunst vorbehalten war, ist nach Liebscher deshalb noch lange nicht und schon gar nicht logischerweise dem Künstler allein vorbehalten. Noch dazu, wo die Erkenntnisse, auf die Liebschers unberechenbares Individuum baut, der Alltagserfahrung Rechnung tragen. Um diese Erfahrung und Erkenntnis der Unberechenbarkeit und Vermehrung auch anderen Individuen zugänglich zu machen, hat sich der Künstler entschlossen, die oben erwähnte Bar mit seinen BesucherInnen zu teilen. Wer nun vor dieses lebensgroße Panorama der Unberechenbarkeit und Vermehrung tritt, wird nicht nur dreimal abgelichtet, sondern derart reproduziert in die Gemeinde der unteilbar Geteilten aufgenommen. Bleibt es auch unberechenbar, wer sich mit diesem Individuum identifiziert, so wird berechenbar, dass sich das einstige Universum von Martin Liebscher in ein Polyversum öffnen wird.
Text von Andreas Spiegl
Liebscher Welt
40 Seiten, 16 cm x 32,5 cm,
Kehrer Verlag, Heidelberg 2002
ISBN: 3-933257-82-4