Anita Shah: Vom Taumel der Großstadt

Vom Taumel der Großstadt


1994 entwickelte Martin Liebscher nach Experimenten mit dem Fotokopieren von Fotografien – er legte Fotos auf den Kopierer und bewegte sie während der Belichtungsdauer – seine ersten so genannten Panoramen, extreme Querformate von Stadtlandschaften, die bis heute den Schwerpunkt seiner künstlerischen Tätigkeit bilden. Die technischen Voraussetzungen für diese Aufnahmen schuf er selbst. Er manipulierte eine Kleinbildkamera derart, dass der Film bei offener Linse per Hand weitergespult werden kann, während die am Körper getragene Kamera samt Weitwinkelobjektiv durch den Raum geschwenkt wird: Kamera und Film werden also gleichzeitig bewegt. Ein Film mit 36 Aufnahmen liefert auf diese Weise etwa vier bis fünf Bilder.

Kennzeichnend für seine Farbfotografien ist, dass sie nicht wie gewöhnlich einen Augenblick fixieren, sondern im Gegensatz zu Zeitpunkten Zeitabläufe zeigen: Bis zu fünfzehn Sekunden Realzeit können in einem Bild gebannt sein. Die Bilder, allesamt Aufnahmen vom dynamischen Leben in Großstädten, etwa von Straßen, Autos, Menschen und Fassaden in New York, Hongkong oder Tokio, zeigen aufgrund des angewendeten Verfahrens eine für den Betrachter ungewohnte Unschärfe. Es stellt sich die Frage nach der fotografischen Technik, nach der Wirklichkeit des Bildes und der Rolle des Künstlers.

Im Laufen, Fahren und Drehen um die eigene Achse versetzt Liebscher alle Objekte in Bewegung. Er „fixiert“ in seinen Bildern die Geschwindigkeit, thematisiert Be- und Entschleunigung, setzt Bewegungsenergien um. Selten findet der Blick Halt. Dinge, Fahrzeuge und Menschen sind verwischt, längenverzerrt oder gestaucht abgebildet, verlieren ihre Richtung und Identität und suggerieren schon für sich genommen Geschwindigkeit. Innen- und Außenraum verschmelzen, Perspektiven wechseln stetig, Vorder- und Hintergründe wirbeln durcheinander, Formen, Farben und Dimensionen verändern sich fortwährend, Motive zerfließen im rhythmischen Stakkato, Fotos mit rasant verschliffenen Lichtbahnen wirken wie Seismogramme einer vorangegangenen Beschleunigung.

Die wellenförmigen Schleifspuren einer aus der Fassung geratenen Häuserfront, die Lichtschlieren, die Verzerrungen, die schwindelerregenden und taumelnden, alle Konturen auslöschenden Drehmomente verwandeln feste Körper und hartes Material in dramatische Kalligrafien. Die räumliche Durchdringung der Gegenstände vertuscht deren tatsächliche Lage, Zuordnungen wie fern oder nah, innen oder außen, vorne oder hinten werden unmöglich. Die Bewegungen der Objekte sind teilweise in Phasen zerlegt. Aus einer unzählbaren Menge gleichzeitiger Bewegungen, die das Leben in einer Metropole kennzeichnen, wählt der Künstler punktuell Situationen aus, deren Darstellung nicht zuletzt von dem Zufall durch die fremden Bewegungen bestimmt wird. Das Foto entstellt die Dinge und löst sie als bewegte Erscheinungen im langgezogenen Blickfeld mehr oder weniger stark auf. Straßen, Architekturkulissen und Passanten werden zu einem einheitlichen Ganzen verschliffen, das Visionen und Utopien andeuten kann, letztlich die Gegenständlichkeit aber nie völlig aufgibt.

Zu sehen sind nicht Lichtbilder von einer Aktion, sondern solche aus der Aktion heraus. Die fotografische Technik, die mediale Umsetzung der Wirklichkeit bestimmt die inhaltliche Deutung der Arbeiten, nicht die abgebildeten Objekte. Mit der simultanen Darstellung von Bewegungsabläufen wird Zeit sinnlich erfahrbar. Liebscher zeigt das Leben als ständigen Fluss. Das Thema der Großstadt ermöglicht ihm, Bewegung, Kraft und Rhythmik visuell zu entfalten. Was den Futuristen zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts nicht möglich war, entwickelt Liebscher an seinem Ende: Seine Fotos – und darin spiegelt sich ihre eigentliche Qualität – zeigen nicht nur die Darstellung von Bewegung und Geschwindigkeit, sie v e r k ö r p e r n diese darüber hinaus. Denn Bildgegenstand, Medium, Handhabung und Werkprozess sind identisch.
 
ANITA SHAH

Abb. Martin Liebscher, Shinjuku Station, Tokio 1999


Desert & Transit
Kunsthalle zu Kiel, 16. Juli- 10. September 2000
Museum der Bildenden Künste, Leipzig, November 2000
Herrausgeberin
Beate Ermacora
Schleswig Holsteinischer Kunstverein
in der Kunsthalle zu Kiel
ISBN: 3-923701-87-X

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