Ein Spiel mit Wahrnehmung und Illusion “Das längste Gruppenfoto der Welt“ mit nur einer Person: Martin Liebscher
FRANKFURT. Ein Frankfurt-Panorama ganz eigener Art windet sich in scheinbar endloser Folge durch sämtliche Stockwerke des Treppenhauses im städtischen Presse- und Informationsamt (Römerberg 32). Der junge Frankfurter Künstler Martin Liebscher hat seinen „Rekordversuch: Das längste Gruppenfoto der Welt“ hoch über dem Treppengeländer, gerade noch in Sichthöhe befestigt. Dem Betrachter bieten sich fortlaufende farbige Ansichten auf die Schönheiten der Zeil und der Hauptwache, gefolgt von Panoramablicken auf den Messeturm von einem Fenster aus. Auch Büros und ein Fotoatelier, in denen es mitunter ziemlich hektisch herzugehen scheint, sind zu sehen. Immer sind diese urbanen Szenen und die Innenräume bevölkert: durch den Fotografen Martin Liebscher selbst, der aber keineswegs nur als Individuum erscheint, sondern meist gleich mehrfach, als trickreich vervielfältigtes Gruppenwesen auftritt. So schlendern kleinere oder gröFere Gruppen von Martin Liebschers an den verschiedenen Kaufhäusern der Zeil vorüber. Und auch in dem Bettler, der mitleidheischend am StraFenrand kauert, ist ohne viel Mühe der Fotograf selbst zu erkennen. Je höher man hinaufgeht, desto privater wird es: Vier Martin Liebschers halten sich in einer gemütlichen Wohnung auf, telefonieren, faxen und versammeln sich um den einladend gedeckten Tisch in einer Küche. Zwei liegen dann unter einem properen Plumeau im Bett, und nicht weniger als 15 nackte Martin Liebschers bevölkern kurz darauf das Schlafzimmer, fast könnte es sich um den – wenn auch noch ziemlich brav wirkenden – Anfang einer Orgie handeln. Mit der Aufnahme des unbekleideten Protagonisten in einsamer männlicher Pracht endet das Gruppenfoto schlieFlich ganz oben im Treppenhaus, wo sonst eigentlich gar nichts mehr ist. Martin Liebscher, Jahrgang 1964, der an der Städelschule bei Thomas Bayrle und Martin Kippenberger studiert hat, unterläuft auch hier die immer noch verbreitete Vorstellung, daF die Fotografie Wirklichkeit dokumentiere, mit doppelbödigem Witz: Die ganz realen Bilder aus der heutigen Frankfurter Lebenswelt werden durch seine mit digitaler Technik kunstvoll multiplizierten Selbstporträts zum ironischen Spiel mit Wahrnehmung und Illusion. (Bis 31. März, zugänglich von Montag bis Freitag während der Dienstzeiten.)
Konstanze Crüwell in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19.01.1997, Nr. 3, S. 26