Über die Kunst Veroneses hat Theodor Hetzer einmal sinngemäß bemerkt, eine Ausstellung, also das Zusammenbringen mehrerer seiner Bilder, bekomme ihnen nicht.1 Denn ein figurenreiches Bild dieses Künstlers entfaltet sozusagen selbst schon eine Welt aus vielen Facetten. Da bedarf es nicht auch noch mehrerer solcher Welten nebeneinander. Das gilt womöglich auch für Martin Liebschers Serie der Familienbilder, in denen so viele sich tummeln.
Ein in jeder Hinsicht würdiges Beispiel für diese Serie gibt das wie so häufig bei Liebscher panoramatisch angelegte No Man is an Island (2007) [Abb.1], wo es linkerhand das Ufer des Altrheins in des Künstlers Heimat Speyer ist, das sich über eine Landzunge rechterhand öffnet zum Strand bei Wustrow an der Ostseeküste, wo der Künstler die Sommertage genießt. Zu den Paradoxien eines solchen Bildes gehört es, dass die Überspielung gleichsam weltlandschaftlicher Unstimmigkeiten, der in solch dichter Benachbarung eigentlich nirgends vorfindlichen Gewässerarten oder Vegetationstypen, ganz zu schweigen von den jahreszeitlichen Unterschieden der Aufnahmezeitpunkte, ausgerechnet durch jenen gemeinsamen Nenner eines immer gleich gekleideten, immerselben Liebschers gelingt, der doch seinerseits alle Vorstellungen von Plausibilität sprengt.
Als diese Arbeit entstand, gut zehn Jahre nach den ersten Exemplaren dieser Serie, waren die Diskurse, die man anfangs glaubte, den Selbstvervielfachungen Liebschers andienen zu müssen, bereits verblasst. Nicht nur erlaubten es ausgefeilte Bildbearbeitungsprogramme nun manch einem, in travestierender, scherzhafter oder werberischer Absicht mit identischen Personen variantenreich eine Szenerie zu bevölkern. Anstelle des Räsonnements über Klone und dergleichen konnte man sich nun auch auf die theatralen Qualitäten der durch unzählige Rollenübernahmen ihre solipsistische Pracht allererst entfaltenden Bildwelten Liebschers besinnen. Nicht zuletzt traten jetzt auch stärker die bildnerischen Qualitäten in den Blick.2 Denn vor der Konstante des allerorten immerselben Liebschers zeichnet sich freilich die Variation allgemeiner Dinge viel anschaulicher ab: das mitunter Prototypische oder Überzeichnete einer Pose oder Gruppierung, das bildrhythmisch Gegliederte oder den Bildraum Beengende einer Anordnung unzähliger Figuren. Und es sind die Rätsel einer synchronen Geselligkeit der diachron fotografisch aufgenommenen vielen einzelnen Liebschers, die uns an die berückenden Unstimmigkeiten manch spätmittelalterlicher Malerei erinnern. So kann es aufgrund sogenannter kontinuierender Darstellung im Passionsbild eines Memling [Abb.2] vorkommen, dass Einzelne aus dem Zuge nach Golgatha heraus und hinein in eine benachbarte Bildstelle äugen, wo sie unverhofft bereits die Zukunft des Wiederauferstandenen erspähen, oder wo Christus als der zweidutzendfach auf einer solchen Tafel erscheinende Protagonist ohne Weiteres mit sich selbst Kontakt aufnehmen könnte.
Vor dem Hintergrund der ihre Besonderheiten nicht nur aufweisenden, sondern regelrecht vorweisenden Familienbilder Liebschers darf man ihnen mithin einen Hang zur Metapikturalität bescheinigen, denn sie scheinen immer auch Bilder über ihre typischen Bildeigenschaften zu sein – was freilich manch ernstzunehmender Kunst eignet. Doch es gibt auch explizite Metapikturalität, der zufolge gewisse Bildstellen nachgerade sinnbildlich für das stehen, was eine Kunst ausmacht. Im vorliegenden Beispiel handelt es sich dabei um ein Bildzitat – freilich getarnt zwischen all den mimisch, gestisch oder anderweitig um unsere Aufmerksamkeit buhlenden weiteren Liebschers in mannigfachen Konstellationen. Die Rede ist von drei Liebschers (Abb. 1, Detail, S.112), die sich anschicken, jene berühmte Aufnahme [Abb. 3] nachzustellen, welche dem Kriegsfotografen Robert Capa (3) im Sommer 1948 am Strand von Golfe-Juan geglückt war: mit einem schon älteren, doch ungemein lebensvollen Picasso, wie er einen großen Sonnenschirm über der vor ihm in Schönheit strahlenden Françoise Gilot hält, mit einem jüngeren Mann im Hintergrund. Rasch wird klar, das auch der Urheber der berühmten Aufnahme in diese Nachstellung mit einbezogen wurde: ein kniender Liebscher alias Robert Capa in der Haltung des draufhaltenden Fotojournalisten, wie er rasch und treffsicher zum Schuss zu kommen sucht. Genau genommen hat Liebscher hier also nicht die Aufnahme Capas, sondern die zu ihr führende fotografische Situation nachgestellt – deren Details mangels historischer Quellen von Liebscher allein aus der Perspektive und Anlage von Capas Bild rückerschlossen wurden.
Doch damit ist die Angelegenheit für Liebscher noch nicht erledigt. Im selben Jahr 2007 entschließt er sich, noch einmal und nun einzig die berühmte Aufnahme Capas als solche, also auch ohne den Fotografen, nachzustellen. Der Serie und ihrem Prinzip nach handelt es sich bei Picasso (2007) um ein Familienbild, oder vielleicht sollte man besser sagen: Kleinfamilienbild. Denn insgesamt nicht mehr als drei Liebschers finden dort ihr sorgfältig am Vorbild ausgerichtetes Stelldichein. Dem historischen Vorbild in Schwarzweiß verpflichtet und akkurat in der Positionierung der Figuren sowie ihrer durch Binnenabstände bzw. durch den Abstand zum Fotoapparat bedingten jeweiligen Flächengröße, folgt Liebscher nun stärker der auf strikte Untersicht angelegten Perspektive Capas. Die Formatproportion wird aufgegriffen, wenn auch etwas behäbiger in die Breite gehend. Dem südfranzösischen Sonnenstand und der Lichteinfallsrichtung antwortet so gut als eben möglich der Wustrower Küstenstreifen, wobei eine mehr als passable Wiedergabe des Spiels aus Schlag- und Körperschatten resultiert.
Bevor wir entscheiden können, was dieses Liebscher-Triumvirat – in der symphonischen wie in der kammermusikalischen Variante – mit seinem Vorbild anrichtet, gilt es, die Implikationen von Capas Aufnahme genauer zu sondieren.
Trotz seines unglaublichen Erfolges, nochmals gefestigt aufgrund seiner tadellosen Haltung in den Jahren der Faschismen und des Krieges, fühlt Picasso sich geschmeichelt von dem Interesse, das die Welt in den späten 1940er Jahren an ihm nimmt und das ihm ständigen Besuch von Fotografen und Reportern in Vallauris beschert.4 Je nach Laune gibt Picasso der Neugier und Zudringlichkeit dieser meist mit Empfehlungsschreiben gewappneten Leute statt. In dieser Zeit wenig reisend und daher meist in seinem Hause oder am Strand anzutreffen, lässt Picasso sich bereitwillig ablichten. Die Aufnahmen erscheinen dann in wichtigen Magazinen in den USA, Frankreich oder England. Bevor er später, schon Anfang siebzig und der Selbstinszenierungen müde, nurmehr wenige Fotografen zulassen wird, die sich ernst auf Details, etwa nur seine Augen, konzentrieren werden, genießt Picasso den Rummel, erteilt den Fotografen sogar Ratschläge, ermuntert sie und kann für ein gutes Foto in die eine oder andere Rolle schlüpfen – eine Bonhomie, die Picasso freilich nicht davon abhält, den Fotografen geringes Selbstwertgefühl zu attestieren: So wie Zahnärzte lieber Ärzte wären, wären jene eigentlich lieber Maler!5
Das ist ungefähr der Hintergrund für den Besuch Capas bei Picasso und Françoise Gilot. Beide kennen ihn bereits seit einigen Jahren persönlich. Unter all den Fotografen und Reportern, die in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg bei Picasso einander die Klinke in die Hand geben, gehört er folglich zu den eher Privilegierteren. Und im August 1948, als er an der Riviera Ferien macht, darf er mit dem berühmten Maler, dessen schöner junger Frau und beider Söhnchen Claude einige Vormittage am Strand von GolfeJuan verbringen. Für den als Kriegsfotografen überaus gefragten Capa, der sich zugleich als Lebemann hervortut, sind Aufnahmen aus der Welt des Films oder der feinen Gesellschaft zwar eher ungewöhnlich, aber durchaus willkommen.6
Capas berühmte Fotos von Picassos Familie werden im US-amerikanischen Magazin ›Look‹ publiziert, auch weil ›Life‹ damals seine Reportagen nicht länger einkauft.7 Berücksichtigung finden sie nur einen Monat später auch in Edward Steichens aufsehenerregender Schau The Exact Instant, Events and Pages in 100 Years of News Photography im Museum of Modern Art, New York.8
Über die Begleitumstände und das Zustandekommen der uns konkret interessierenden Aufnahme ist wenig bekannt. Die hochbetagte Françoise Gilot gab unlängst zur Auskunft, das Foto sei »einfach aus dem Moment heraus entstanden. Wir hatten nichts abgesprochen, wir hatten einfach Spaß«.9
Doch was sind die Auspizien dieses Spaßes? Vordergründig erscheint der wie ein Diener Schatten spendende Picasso der Frau nachgeordnet, ihr Vortritt, ja Auftritt gewährend. Das wird sogar verstärkt durch die nachgerade bedeutungsmaßstäblich anmutenden Größenunterschiede, obgleich sie natürlich durch die Kameraeinstellung aus nächster Nähe und das mithin größere Gewicht der Binnendistanzen bedingt sind. Andererseits befindet Picasso sich genau in der Bildmitte, wobei die Symmetrieachse durch den Schirmstab, den niemand anderes als er hält, noch hervorgehoben und seine zentrale Position durch das aufgespannte Rund des Schirmes bekräftigt wird. Des Weiteren ist für seine Rolle des nicht nur frontal den Betrachter, sondern auch die vor ihm vermeintlich bildbestimmende Frau Taxierenden Picassos Position im Mittelgrund gerade kein Nachteil. Das mag ein vergleichender Blick auf Robert Doisneaus Aufnahme von 1951 veranschaulichen [Abb.5], wo Picasso, im Zimmerhintergrund auf dem Kanapee kauernd, zwar nicht mehr Fläche einnimmt als das Antlitz der groß im Halbprofil und Bruststück ins Bild gerückten Gilot, jedoch unübersehbar er es bleibt, bei dem die Fäden zusammenlaufen.
Sein Neffe Javier Vilato, klitzeklein im Hintergrund von Capas Aufnahme, ist dann wenig mehr als Staffage. Sich fügend ins hofberichterstattungsfähige Bild jener Reichen oder Schönen, die damals auch andere Prominente an der Côte d’Azur umschwärmten, war und blieb er doch eine von Picasso abhängige Figur. Es mag situativer Zufall gewesen sein, aber der Stab, den dieser athletische Jüngling wie eine Lanze trägt, lässt alles Mythische vergessen, alsbald man sich klarmacht, dass es nichts als der verlängernde – ins Erdreich zu klopfende – Pflock genau jenes in den Himmel reichenden Sonnenschirmes ist, den Picasso selbst sich gegriffen hat. Ob man letzteren daraufhin sogleich als »alte[n] Puppenspieler« dämonisieren sollte, wie er sich als »die Sonne und die Dunkelheit«, ja als »der Mittelpunkt des Universums« inszeniert, mit dem Schirm bestimmend, »wo Licht war und wo Schatten zu sein hatte«,10 bleibt Auslegungssache. Und es bleibt abhängig davon, auf welche Seite man sich in Sachen ›Picasso und die Frauen‹ schlägt.
Der unverhohlenen Bewunderung altmoderner und teils noch heutiger Zeiten11 für ein die Frauen unablässig als wandlungsreiches Motiv, als Muse wie als Gespielin kürendes, sich an ihnen immer wieder erneuerndes schöpferisches Genie steht eine kritische Lesart gegenüber, die in Picasso den Egomanen und Vernichter der ihn Umgebenden, darunter besonders der Frauen erkennen will.
Dass Picasso sich in einer das ironische (12) Moment nicht abstreifenden Pose gefällt, ist gesehen worden, auch dass es für das Motiv des den Sonnenschirm haltenden Mannes ein schönes Vorbild bei Goya [Abb. 6] gibt.13 Doch es stellt sich die Frage, was hier wie dort geschieht: Bei Goya wird eine schon seinerzeit überkommene, eher noch der Welt Lancrets und Tiepolos zugehörige höfische Galanterie zwar mitnichten unterhöhlt, aber doch in neu besetzten Rollen probiert. Es sind jetzt einfache Leute, indes anmutige Jünglinge und Mädchen, die das auf Würde zielende, etwas verbrauchte Schema pyramidaler Komposition auflockernd, unseren Sinn anregen für das, was Farbe und Licht zuwege bringen: in teils abgeschatteten, teils vom Sonnenlicht erhellten Partien, und im Gesicht der jungen Frau von verhaltener und zauberhafter Erscheinung, weil ein von unten (wie beim Theater) herauf schimmerndes und zugleich ein vom Schirm her diffus gefiltertes Licht dieses Antlitz durchwirken.
Nun ist beileibe nicht ausgemacht, dass Picasso, auch wenn er die fotografische Situation eigenmächtig umgestaltet oder entsprechende Initiative ergriffen haben sollte, sich darin ausdrücklich auf Goya bezog. Und geradezu abwegig wäre es, alternativ dazu ausgerechnet Capa einen derart expliziten Bezug zu unterstellen. Was ja nichts anderes hieße, als dem obzwar gewieften Chronisten moderner Kriege das Bravourstück nicht allein eines dem Augenblicke abgerungenen Tableau vivant, sondern auch noch dessen fotografischer Verewigung zu bescheinigen.
Plausibler als ein solcherart aus dem Hut gezaubertes Bildzitat erscheint mir die im Verein von Picassos Sinn für Posen und Capas Männerleichtlebigkeit zuwege gebrachte Inszenierung eines Alsob. Dass also just das Topische oder, unschmeichelhafter gesagt, das Abgehalfterte einer nicht erst zur Mitte des 20. Jahrhunderts verstaubten, sondern, wie erwähnt, bereits zu Goyas Zeiten überkommenen Galanterie es ist, in welcher Picasso augenzwinkernd posiert – was deshalb ja nicht weniger bezeichnend ist! Der nur gespielte Kavalier gibt eben auch der Selbstgefälligkeit Raum. Und man denkt hier an die feministische Einsicht, es sei »gerade der Androzentrismus […], der das Bild des Weiblichen als scheinbar Herrschendes hervorbringt«14.
Wenn es nur vordergründig Scherz oder Galanterie, letztlich aber ein Triumph ist, den Picasso (oder den Capa an ihm bzw. für ihn) inszeniert – über die Frauen, die er nach Belieben vorführt, über junge männliche Bewunderer, die er weit hinter sich lässt –, worin liegt dann der Sinn der Liebscherschen Paraphrase? Dieser Sinn erschließt sich über das Wie der Paraphrase. Bestimmt ist es sowohl durch die Liebscher-typische Selbstvervielfachung als auch die Gattung des Tableau vivant, letztere freilich unter Rahmenbedingungen des fotografischen Bildes, für das entsprechende Nachstellungen hier ja überhaupt nur unternommen werden. Und was solche Nachstellungen eines Bildes betrifft, so unterscheidet sich Liebscher fundamental von zahlreichen anderen Künstlern.15 Denn wie auch immer die surrealistisch, queer, trashig, parodistisch motivierten Vertreter bei der Verwendung des fotografierten Lebenden Bildes ihren Einsatz machen, stets geht es dort um die Unpassung des Gebotenen gegenüber dessen Vorbild.16 Typischerweise schlüpft also der Künstler oder schlüpfen von ihm Bestallte in entsprechende Rollen, wozu sie kostümiert, geschminkt und meist auch typgerecht ausgesucht werden. Von Duchamp bis Morimura, von Antin bis Coleman ist die Strategie daher prinzipiell eine des Brechtschen Illusionsbruchs: Das Gespielte des aufwandsreich inszenierten Spiels wird ausgestellt.
Hingegen geht es Martin Liebscher bei aller Sorgfalt der eingenommenen Posen doch nirgends um Illusion, die folglich auch gar nicht gebrochen werden muss! Nicht nur treten die einzelnen Liebschers ungeschminkt und eher im Alltagshabit auf, sie treten pro Bild ja auch alle im gleichen Look auf. Und was könnte unmissverständlicher die Verweigerung jeglicher Travestie oder Transformation betonen? Nähme der Künstler sich beispielsweise – wozu wir ihm nicht raten wollen! – die Heilige Familie als Thema vor, so läge in der Krippe auf Stroh, wir ahnen es, auch wiederum ein ausgewachsener Liebscher. Prinzipiell nicht anders als bei jenen belustigungshalber im Internet kursierenden Varianten einer Heiligen Familie, bei denen sämtliche Protagonisten aus namensbeschrifteten Cola-Dosen bestehen und der Clou darin gründet, dass das Sujet ein kulturell stark gefestigtes Schema ist, welches wiederzuerkennen eben auch im Medium der korrekt positionierten Getränkedosen möglich ist, macht auch das Liebscher-Trio in Bezug auf Capas Aufnahme die Probe aufs Exempel: Was eigentlich noch bleibt, wenn alles abgezogen wurde bis auf die schiere Anordnung, Haltung, Requisiten und Komposition der Szene. Und dieses subtraktive Prinzip ist freilich sehr vergleichbar all jenen Parodien, die man seit alters her ersonnen hat, um sich über die Torheit der Menschen oder das als ungebührlich empfundene Pathos gewisser Kunstwerke zu belustigen. Wenn es beispielsweise in der Singerie des französischen Rokoko lauter Affen sind, die sich emsig einem Handwerk oder einer Dienstleistung hingeben und dabei fachmännisch beargwöhnt werden von ihrer ebenfalls äffischen Kundschaft,17 so tritt auf nahezu modellhafte Weise das Prototypische des Parodierten hervor. Und so auch bei Liebscher. Doch damit nicht genug. Indem es nun – hier entfernen wir uns wieder von den gleichschalterischen Hilfsmitteln der Parodie, der Karikatur oder der Fabel – jeweils Martin Liebscher höchstpersönlich ist, der partout in alle Rollen schlüpft, der in unserem Beispiel also nacheinander Angebetete, Meister und Adabei mimt, macht ihm keiner etwas vor! Die von uns allen irgendwann schon einmal vernommene Entgegnung: »Du steckst ja nicht in meiner (oder in seiner, oder in ihrer) Haut« verfängt bei Liebscher nämlich gar nicht. Er steckte ja buchstäblich in jeder einzelnen Haut – und steckt dort anschaulich noch, bewahrt im Bild. Das subtile Machtgefüge folglich, in dem Picasso, in Kooptation mit dem echte Männer verstehenden Capa, sich bildbeherrschend aufspreizt, ist dann zwar nicht zum veralbernden Abschuss, aber doch zum Überdenken freigegeben. Diesem Studium der Figuren in ihren wechselseitigen Beziehungen dient die bündige Fassung aus nur drei Liebschers. Die Fassung mit den vielen Liebschers enthält dann das Bildzitat zwar nur en passant, doch just dies wiederum mit Bedacht: So wie auf einer ehemals Pieter Bruegel d.Ä. zugeschriebenen Tafel die vielen Schafe vom überdies mit dargestellten ›Sturz des Ikarus‹ keine Notiz nehmen (und vielleicht gut daran tun), sollen auch die Exaltationen eines Picasso mit Entourage von den übrigen Liebschers unbemerkt bleiben.
In: Bitte ein Liebscher! Das weiße Album, Verlag für moderne Kunst GmbH, Wien, 2017
1 Theodor Hetzer: Paolo Veronese. In ders.: Aufsätze und Vorträge Bd. 1, Leipzig: VEB E. A. Seemann, 1. Aufl. 1957, S. 75-145, sinngem. S. 77 u. S. 86.
2 Vgl. zu solchen Implikationen der Familienbilder vom Autor: Hundred are better than one. Martin Liebschers ‘Familienbilder’. In: Anne Marie-Freybourg (Hrsg.): Die Inszenierung des Künstlers. Berlin: jovis 2008, S. 60-65.
3 Gültig ist die motivisch und fototechnisch geringfügig revidierte Version: Martin Liebscher: Picasso 2, 2009, Fine Art Inkjet Print, 62 x 50 cm, Aufl.: 10.
4 Vgl. hierzu die Darlegung bei Anne de Mondenard: Una vittima consenziente. In: Picasso images – le opere, l’artista, il personaggio. Ausst. Kat. Rom, Museo dell‘Ara Pacis, 14.10.2016-19.2.2017, S. 136-146.
5 Vgl. die Anekdote bei Gabriella Zinke: Das Bild des Künstlers. Fotoporträts von Picasso, Giacometti und Le Corbusier. Univ.-Diss., Zürich 2006, S. 116.
6 Vgl. entsprechende Passagen des Biographen Richard Whelan: Die Wahrheit ist das beste Bild. Robert Capa, Photograph. (amerikan. Erstausg.: Robert Capa: A Biography, 1985), Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 380-382.
7 Erscheinungsdatum: 4. Januar 1949; vgl. Mondenard, S. 139. 8 Ausstellungsdauer vom 9.2.-1.5.1949.
9 Im Interview mit Johanna Adorján: Muse Françoise Gilot. Picassos größtes Rätsel. In: FAZ vom 06.06.2015, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/muse-francoise-gilot-picassos-groesstes-raetsel-13618896.html
10 Malte Herwig: Die Frau, die nein sagt. Rebellin, Muse, Malerin. Franҫoise Gilot über ihr Leben mit und ohne Picasso, Hollenstedt: Ankerherz 2015, S. 36 f.
11 Nicht angekränkelt von aller neueren Debatten Blässe und stattdessen als Hommage an des Meisters komplettes Frauenspektrum kommt der opulente Katalog der Kunstsammlungen Chemnitz daher: Picasso et les femmes (22.10.2002-19.1.2003).
12 Wilfried Wiegand: Die Suche nach dem ganz Anderen. Ein Gespräch mit Franҫoise Gilot. In Kat. F.Gilot, (s.o.), S. 34-39, S. 39.
13 Zinke (s.o.) S. 117; vgl. a. die Einträge in Kat.: Goya. 250 Aniversario, 30.3.-2.6.1996, Madrid, Museo del Prado, Kat.nr. 12, S. 292f.; Kat.: Francisco de Goya, 1746-1828, Prophet der Moderne. Alte Nationalgalerie Berlin 13.7.-3.10.2005 / Kunsthistorisches Museum Wien, 18.10.2005-8.1.2006, S. 82.
14 Susanne von Falkenhausen: Vom ‘Ballhausschwur’ zum ‘Duce’. Visuelle Repräsentation von Volkssouveränität zwischen Demokratie und Autokratie. In: Graczyk, Annette (Hrsg.): Das Volk : Abbild, Konstruktion, Phantasma. Berlin 1996, S. 3-17, S. 9.
15 Vgl. die Beispiele bei Sabine Folie / Michael Glasmeier (Hrsg.): Tableaux vivants. Lebende Bidler und Attitüden in Fotografie, Film und Video. Zugl. Kat. Kunsthalle Wien, 24.5.-25.8.2002.
16 Damit heben sie sich freilich ab von jenen dilettantisch Beseelten, die Verschmelzung mit ihrem Vorbild suchen.
17 Vgl. Thierry Lenain: Monkey Painting. London: Reaction Books Ltd. 1997, hier den Abschn.: “The theme of the artist as a monkey”, S. 42-59.