Auf Liebschers Gruppenbildern, die er auch Familienbilder oder „Liebscher Welt“ nennt, ist nur der jeweils gleich gekleidete Künstler zu sehen, der sich wie viele verhält. Die Arbeiten entstehen durch digitale Bearbeitung eingescannter Fotografien, die Liebscher mit Selbstauslöser an ein und demselben Ort von sich aufnimmt. Die Figuren sind nicht digital manipuliert, sondern es handelt sich um Abbilder einer leibhaftig agierenden Person. Verwischte Bewegungsmotive verstärken den Eindruck des Authentischen. Und Liebscher verschränkt bei den panoramabreiten Arbeiten die verschiedenen Raumansichten digital derart, dass eine auf den ersten Blick einheitliche Raumwirkung entsteht. Die Bilder sehen wie der Schnappschuss einer Szene aus, geben sich durch die Wiederholung der gleichen Figur aber auch sofort als Simulation zu erkennen. Liebscher hält das Verhältnis von Abbild und Simulation perfekt in der Schwebe, und dieser ambivalente Realitätscharakter des Sichtbaren formt auch die inhaltliche Dimension der Bilder. Da er in den Titeln stets den Ort des Schauplatzes benennt, bürgt er für dessen Realität. Aber er wählt zumeist unpersönliche Innenräume wie sie sich auch an anderen Standorten befinden: für „Termingeschäft Frankfurt“ das vollgestopfte Büro der Computerbörse für Finanztermingeschäfte, deren Sitz in Frankfurt eigentlich nicht relevant ist, ermöglicht sie doch standortunabhängige Teilnahme am Handel. Nicht wenige Glücksritter benutzen sie als elektronisches, virtuelles Spielcasino. In den aus Nahsicht erfassten Räumen kann der Betrachter sich nicht leicht orientieren. Sein Blick wird nicht eindeutig gelenkt, springt eher im Raum hin und her, so dass die Einheit des Raumes in der sukzessiven und diskontinuierlichen Wahrnehmung ungewiss wird. Dieser Spaltung der Wahrnehmung korrespondiert die Spaltung des Protagonisten, dessen multipliziertes Auftreten nicht nur die scheinbare Gleichzeitigkeit des Bildgeschehens aufhebt, sondern auch seine eigene Gegenwart in Frage stellt; denn wer allgegenwärtig ist, ist nirgendwo wirklich. Während Liebscher als Star seiner Bilder hohe Medienpräsenz erfährt, verschwindet er als Person in der uniformen Anonymität. Dagegen gewinnen seine vielen Doppelgänger individuelle Konturen im simulierten Geschehenszusammenhang. Die Figuren grenzen sich körperhaft und aktiv gegeneinander ab, treten in Beziehung, drücken momentane innere Befindlichkeiten aus. Sie verhalten sich unterschiedlich, aber austauschbar; denn da alle gleich sind, kann jeder auch der Andere sein. Sie spielen dieselbe Rolle, deren zeitliches Nacheinander Liebscher in ein räumliches Nebeneinander umwandelt. Wir sehen nicht eine Person, die zu verschiedenen Zeiten verschieden agiert und doch identisch bleibt, sondern eine räumliche Situation, in der alle gleich sind — und jeder steht neben sich. Es ist der situative Kontext, der die Rolle vorgibt. Liebschers Marketmakers zum Beispiel sind angespannt betriebsam, aggressiv bis zur Tätlichkeit, resigniert bis zum Suizid, alles Folgen ihres Berufes. Wer im Termingeschäft ein gemachter Mann werden will, setzt sich ständigem Zeitdruck und harter Konkurrenz aus, gründet seine Existenz auf riskante Spekulation.1 Ist individuelles, selbst-bestimmtes Verhalten nur eine Fiktion, die an der Realität scheitert? Wird der Versuch, die mögliche Vielfalt seiner eigenen Person zu entdecken, mit dem Verlust der Identität bezahlt? Oder ist das Ich vielleicht eine Konstruktion aus Realität und Fiktion, eine veränderliche, spekulative Größe? Liebscher begibt sich in verschiedene Situationen, spiegelt sich in verschiedenen Rollen, die häufig auch einen Bezug zum Künstlerdasein haben, überformt sich immer wieder neu, ohne sich definitiv zu formulieren. Er hält sich offen für neue Möglichkeiten. Insofern bedeuten seine Bilder Selbstbefragung, Selbsterfahrung und Konstituierung eines möglichen Ich. Da er nicht seine Innenwelt in den vielen Anderen ausbreitet, sich vielmehr zur Projektionsfläche der Anderen macht, manifestiert sich seine Position als Künstler an der Grenze von Innen- und Außenwelt. Indem er den prägenden Druck gesellschaftlicher Konstellationen auf das Ich thematisiert, macht er die „Außenwelt als Krisenschauplatz“1 des Ich sichtbar. Die multiplizierte „Liebscher Welt“ ist eine neue Visualisierung des traditionell sozial bestimmten Gruppenbildes.
1 Reinhard Spieler, Einer — Keiner — Hunderttausend? Das multiplizierte Individuum in der Kunst. In: Ich ist etwas Anderes — Kunst am Ende des 20. Jahrhunderts, Ausst. Kat. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2000, S. 209
Renate Heidt Heller in
Taktiken des Ego
Stiftung Wilhelm Lehmbruck Museum Duisburg
136 Pages, 21cm x 27cm.
Kerber Verlag 2003
ISBN 3-936646-12-0