Die Basteleien von Martin Liebscher dienen mehreren Zwecken. Unter anderem scheint es ihm darum zu gehen, ein Äquivalent für den Begriff Daseinsfluß zu finden. Und wenn er zwei Einwegkameras so mit einander verschweißt, daß sie in ihrer Mitte einen einzigen Film belichten, oder wenn er eine Spiegelreflexkamera mit einem statischen Aufnahmeschlitz versieht, an dem dann durch kontinuierliches Kurbeln der Film vorbeigezogen wird, so geht es darüber hinaus um Anonymisierung. Anonymisierung dessen, was man als genuin künstlerische Aufmerksamkeitsform verstehen konnte. Als Maschine, von jedermann zu bedienen, verwirklicht die gedoppelte Kamera einen alten egalitären Traum: daß der Schauende und der Angeschaute in einem Bild zusammenfinden, Subjekt und Objekt miteinander verschmelzen. Der Film wird so zu einer Schnittstelle, an der sich gegenüberstehende Wirklichkeiten begegnen.
Die Photographien, die Martin Liebscher mit der „Panoramakamera“ macht, verschmelzen die verschiedengestaltigen Fakten der äußeren Wirklichkeit zu einer Schleife aus Formen, Farben, Räumen, Dimensionen. In einem überaus malerischen Sinn wird die Realität draußen in etwas Manipulierbares und Handhabbares verwandelt. Als bliebe nur eine beliebig formbare Haut, die den Dingen abgezogen ist. Vor allem die Längenausdehnung der Photographien laßt sie als Film erscheinen. Hier aber geht es nicht um bewegte Bilder, sondern um die bewegte Kamera. Liebschers Photographien geben ein Bewegungsdiegramm, das diese Bilder als indirekte Handschrift prägt. Sie lassen schließen auf eine Korperaktion oder Aktivität, die sich vor der Kulisse der Wirklichkeit abspielte. In Liebschers aktuellen Arbeiten erscheint nicht nur die römische Villa Borghese, sondern auch eine nach amerikanischem Vorbild gebaute Verbindungsstraße zwischen Mannheim und Ludwigshafen als Echogrund der Körpersprache. Ihre Präsentation in vertikaler Anordnung verwandelt die Straßenschlaufe mit ihren diversen Niveauunterschieden in eine manieristisch geflochtene Säule. Das Verschleifen der Dinge, Architekturen, Personen, Straßen, Brocken zu einer weichen, organhaften Einheit ist ein Angriff auf das Ontische und damit eine Auflösung der festen Subjekt- und Dingposition. So vielleicht nimmt ein Insekt wahr, das an einer schlierigen Glasscheibe entlangbrummt. Und tatsächlich geht es hier, ebenso wie bei den computergesteuerten Bildbearbeitungen, mit denen Liebscher gleichzeitig experimentiert, um eine Evolution neuer Rezeptivität. Der Entwicklungsprozeß, von dem man beim Photographieren sprach, nimmt ungeahnte Bedeutung an. Liebschers Photographien halten nicht so sehr Zeit und Ort fest, sondern setzen Bewegung, Dimensionsverschiebung, fließenden Wechsel des Aggregatzustands frei. Der Künstler interessiert sich weniger für kategoriale Ausfilterung von Wirklichkeit als für die Möglichkeiten der Kernfusion. Daß damit auch die eigene Identität in Frage steht und ins Spiel der Identitäten und Vervielfachungen eintaucht, gehört zum Risiko dieses Unternehmens.
Rudolf Schmitz
Kulturprämie, Katalog zur Ausstellung im BASF Feierabendhaus, Ludwigshafen und im Lindenau-Museum 1995